282 Seiten
24,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1457-9
(23. Dezember 2020)
Das machtpolitisch gut erklärbare Verhalten des RKI, einiger Vertreter der Medien und der Politik veranlasst die Autoren, über verschiedene gesellschafts- und wissenschaftspolitische Aspekte der Corona-Krise nachzudenken. Dabei stoßen sie auf ein Gemisch aus Laienkenntnissen, Verschwörungstheorien, sich widersprechenden fachlichen Expertisen, gut gemeinten, aber schlecht durchdachten Kampagnen, aber auch auf den Bürgern vorenthaltene Fakten. Der Idealfall, dass stichhaltige und handlungsleitende Argumente, auch wenn sie keine absoluten Wahrheiten darstellen, ihre Basis in einem dynamischen Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis haben, wird dabei um Längen verfehlt. Das Buch spiegelt den selbst verschuldeten Prestigeverlust der Wissenschaft in der ersten großen Welle der Pandemie und die Folgen, die dies für den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind hat.
Das Forscherpaar Quaas, gelernte Ökonomen und Statistiker, beobachtet aus dem Ruhestand die Entwicklung der Corona-Pandemie. Ihre Profession bestimmt den Zugang zum Thema. Wichtig für das Verständnis der Entwicklung der Pandemie ist der Zeitpunkt der Erstellung und Veröffentlichung. So wurde den Autor*innen prognostiziert, dass das Thema im Herbst 2020, dem geplanten Erscheinungstermin, keinen Menschen mehr interessieren würde. Der vorgelegte Band wurde Ende 2020 abgeschlossen, Anfang 2021 veröffentlicht und die Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie läuft immer noch auf Hochtouren.
Die zentrale Fragestellung, der die beiden Verfasser*innen nachgehen, ist, wie die Wissenschaft ihrer Verantwortung bei der Beratung der Politik gerecht werden kann. In Deutschland kommt dabei dem Robert-Koch-Institut (RKI) die Rolle des wichtigsten Politikberaters zu. Es veröffentlicht Dossiers und Kennziffern über die Pandemie sowie täglich regional differenzierte Zahlen über ihren Verlauf. Damit ist es nicht nur das maßgebliche Institut für die Gesundheitspolitik, sondern auch der Datenproduzent für die "Fachöffentlichkeit".
Kern des Buchs ist der Nachweis, dass die Reproduktionszahl R, die einen Kernindikator für den Verlauf einer Pandemie und deren politische Steuerung darstellt, vom RKI nicht wissenschaftlich korrekt abgebildet wurde. Die Autor*innen versuchten erfolglos, eine breitere wissenschaftliche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, wie die Reproduktionszahl als eine der Schlüsselgrößen für das Geschehen wissenschaftlich korrekt zu berechnen ist. Auffällig sei der Widerspruch zwischen dem Anspruch, eine Kennziffer zu haben, die der Politik zeitnah präzise Auskunft über die sich schnell wandelnde Situation gibt und der zu beobachtenden Lässigkeit im Umgang mit der maßgeblichen Theorie und Methodik ihrer Ermittlung. Dies gehe einher mit einem Bedeutungsverlust des R-Wertes zugunsten des wöchentlichen Inzidenzwertes. Die Autoren reflektieren über gesellschafts- und wissenschaftspolitische Aspekte der Corona-Krise. Sie stoßen auf eine Mischung aus Laienkenntnis, Verschwörungstheorien, sich widersprechenden Expertisen sowie den Bürger*innen vorenthaltene Fakten. Der Idealfall von Wissenschaft, in der stichhaltige Argumente ausgetauscht werden, unterliege macht- und interessenpolitischen Konstellationen. Dies führe letztlich zu einem selbst verschuldeten Prestigeverlust der Wissenschaft und einem Vertrauensverlust in die Politik.
Trotz einer Reihe wissenschaftlicher und für den Laien schwer nachvollziehbarer Berechnungen legt das Buch in wohltuend kritischer Auseinandersetzung die Finger in die Wunden der wissenschaftlichen Politikbegleitung.
Der Untersuchung dieser Problematik haben sich zwei Wissenschaftler angenommen, indem sie seit Erscheinen der ersten Berichte über das Auftreten des SARS-CoV-2-Virus in Deutschland analysierten, wie Wissenschaft und Politik auf die lebensgefährliche Pandemie reagierten, wie sie ihre Erkenntnisse und die notwendigen Abwehrmaßnahmen kommuniziert haben und welche Konflikte hierbei aufgetreten sind. Herausgekommen ist dabei ein aktuelles und zugleich für viele hochinteressantes Buch. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Pandemie keine Angelegenheit allein der Medizin ist, sondern die ganze Gesellschaft betrifft, das heißt alle Bereiche, Strukturen, Institutionen und Bevölkerungsgruppen. Die Erfolge wie die Misserfolge beim Umgang mit der Pandemie zeigen die Vorzüge unserer Gesellschaft auf, ebenso aber auch die Schwachstellen derselben, ihre Verwundbarkeit. Die beiden Autoren des vorliegenden Buches sind Wirtschaftswissenschaftler. Ihre Expertise gilt folglich nicht der Medizin, sondern der Ökonomie, der Statistik, der Informatik und der Politik. Wie die Lektüre zeigt, ist dies kein Nachteil. Der Blick "von außen" auf das medizinische Geschehen, auf das Gesundheitswesen und die Gesundheitspolitik, erweist sich vielfach sogar als Vorzug.
Schließlich geht es in dem Buch nicht um medizinische Details, sondern vielmehr um die Folgen der Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung und Bekämpfung für die Gesellschaft, für den Staat, für die Volkswirtschaft und für die Politik. Einleitend legen Friedrun und Georg Quaas dar, wie in Deutschland, aber auch anderswo, gar nicht, falsch oder zumindest viel zu zögerlich auf die ersten Warnzeichen aus China reagiert worden ist. Dadurch wurde wertvolle Zeit verschenkt. Zugleich aber wurde auch sichtbar, welche Prioritäten in unserer Gesellschaft gelten. Die Stichworte hierfür sind Karneval, Ski-Urlaub, Sport-Events und Fußball. Überdies wird dargelegt, welche Unklarheiten und Irritationen in der Bevölkerung entstehen können, wenn sich nicht nur die wirklichen, sondern auch die vielen "selbsternannten Experten" lautstark zu Wort melden - und Gehör finden. "Das macht es selbst dem informierten Bürger nicht leicht, zwischen abgesicherten Erkenntnissen und Fake News zu unterscheiden." Zumal, wenn auch Politiker sich daran beteiligen, Fake News zu verbreiten oder Verschwörungstheorien aufsitzen. Es hat sich aber auch als problematisch erwiesen, die fachinterne Diskussion unter Virologen, Infektiologen und Epidemiologen teilweise öffentlich zu führen und den unter Wissenschaftlern durchaus üblichen Meinungsstreit coram publico auszutragen. Politiker wie Bürger wünschen sich in solchen Fällen eine eindeutige und klare Einschätzung der Lage und eine einhellige Beurteilung der zu treffenden Maßnahmen. Dies aber widerspricht der wissenschaftlichen Praxis und den Gepflogenheiten der Experten, welche die Wahrheit nicht in ihren Archiven haben, sondern im Widerstreit verschiedener Hypothesen herauszufinden versuchen. Hinzu kommt, dass es auch hier einen Wettbewerb gibt, zwischen den verschiedenen Schulen, Theorien, Ansätzen, Institutionen und Personen, und dass einzelne Wissenschaftler versuchen, sich im öffentlich ausgetragenen Meinungsstreit zu profilieren. Die hierzu angestellten Beobachtungen und unter der Überschrift "Wissenschaft trifft auf Gesellschaft" vorgenommenen Überlegungen der Autoren sind höchst interessant und exemplarisch auch für andere Streitfälle.
Bemerkenswert ist auch, was Friedrun und Georg Quaas zu den veröffentlichten Daten, den Berechnungsmethoden, verwendeten Modellen, Gleichungssystemen, Dunkelziffern und so weiter aufgeschrieben haben. Im Mittelpunkt steht hier die sogenannte "R-Zahl" (Reproduktionszahl), wie sie das Robert-Koch-Institut (RKI) definiert und ausweist sowie die daran geknüpfte politische Entscheidungsrelevanz. Die Autoren vermögen zu zeigen, wie unterschiedliche Berechnungsmethoden zu unterschiedlichen Schlüssen führen und wie die Politik darauf jeweils reagiert. Das siebente Kapitel erlaubt den Lesern einen Einblick in die Diskurskultur, wie sie Georg Quaas im Meinungsaustausch mit Bloggern kennengelernt hat. Hieran wird deutlich, welche Probleme bei einer populärwissenschaftlichen Diskussion über Corona-Verläufe und -Maßnahmen auftreten können, wenn sich Laien und Möchtegernwissenschaftler daran beteiligen, die an allem zweifeln, nur nicht an der eigenen Kompetenz.
Der wichtigste Teil des Buches bezieht sich auf die "gesellschaftliche Erfahrung" mit der Covid-19-Pandemie. Immer deutlicher wird, dass alle ergriffenen, aber auch unterlassenen Maßnahmen ihren Preis haben. Dieser muss in das Kalkül einbezogen werden, wenn eine sachliche Bestandsaufnahme angesagt ist. "Die Malaise liegt allerdings darin, dass man erst a posteriori weiß, ob der gezahlte Preis nicht zu hoch war." Vielleicht stellt sich am Ende heraus, dass die "Kollateralschäden" gravierender waren als der beabsichtigte positive Effekt. Vielleicht aber gilt auch das Gegenteil. Abgerechnet aber wird erst am Schluss, wenn man weiß, ob die getroffenen Maßnahmen geholfen haben oder nicht und welche Maßnahmen am meisten gewirkt haben. Zuvor aber kommt es für die Politik darauf an, die "richtigen" Prioritäten zu setzen! - Das Buch kann helfen, sich im Gestrüpp der unterschiedlichen Meinungen und komplizierten Problemlagen besser zurechtzufinden. Auf jeden Fall aber wird deutlich, wie fragil unsere Gesellschaft ist und dass sich bis zum Anrollen der nächsten Welle in der Bundesrepublik Deutschland einiges ändern sollte.
"... Die Corona-Pandemie ist, wie die Autoren herausarbeiten, auch ein Realzeit-Labor für das Zusammenspiel von Wissenschaft und der Politik. Nur ein naives Verständnis von Wissenschaft als wertfreiem Erkenntnisprozess könnte es überraschen, dass schon kurz nach Bekanntwerden der ersten Infektionen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft unterschiedliche Sichtweisen auf die Pandemie und ihre Eigendynamik erkennbar wurden, die sich in unterschiedlichen Empfehlungen für Maßnahmen und politische Entscheidungen niederschlugen. Auch das Robert Koch-Institut (RKI) als staatliche Oberbehörde zur Beobachtung der Situation und zur Koordination gesundheitspolitischer Maßnahmen war sich in seinen Einschätzungen nicht immer wirklich sicher. Es trug durch wechselnde und für Nicht-Fachleute teilweise nur schwer nachvollziehbare "magische" Kennziffern, an denen Gefahr oder die Wirkung von Maßnahmen der Politik abzulesen ist, nicht immer dazu bei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft zu stärken. Mal war es die Zeit, in der sich die täglichen Infektionsfälle verdoppeln, dann wurde die Kennziffer "R" hochgehalten, die beschreibt, wie viele Menschen von einem Infizierten durchschnittlich angesteckt werden. Inzwischen schaut das Land gebannt auf die "7-Tage-Inzidenz", die Zahl der neuen Infektionsfälle pro 100.000 der Bevölkerung in einzelnen Kreisen und Städten.
Die beiden Quaas erläutern diese verschiedenen Kennziffern und ihre fachwissenschaftlichen und mathematischen Grundlagen gut nachvollziehbar. Dabei gehen sie mit dem RKI teilweise durchaus streng ins Gericht. Offenkundig hat das Institut bewährte mathematische Modelle sehr eigenwillig und ohne wirklich nachvollziehbaren Grund variiert und dabei, wie die Autoren plausibel darstellen, die Aussagekraft der Kennziffern nicht verbessert, sondern eher beeinträchtigt. Auch die Wissenschaft hatte offenkundig wenig Zeit, sich wirklich gründlich über die richtigen Messmethoden und Darstellungsformen zu verständigen.
Die Politiker sind in dieser Situation wahrlich nicht zu beneiden. Es ist angesichts der Umstände immer wieder durchaus erstaunlich, wie entscheidungsfähig dann auch das hochkomplexe föderale politische System Deutschlands doch letzten Endes war und wie weitgehend die Öffentlichkeit die ergriffenen Maßnahmen akzeptierte.
Friedrun und Georg Quaas zeichnen dies alles ausführlich und durchweg sehr sachlich nach. Ihr Buch ist ohne Zweifel ebenso eilig geschrieben wie publiziert, aber es ist immer fundiert. Gelegentlich bietet es etwas schwerere Kost, wenn es um die Mathematik der Pandemie geht. In einigen Teilen, wo die Abläufe und öffentlichen Debatten nachgezeichnet werden, gibt es einige Redundanzen. Zumindest für denjenigen, der das Geschehen seit März 2020 aufmerksam verfolgt hat, ist manches bereits bekannt. Aber diese Passagen sind dann doch wieder wichtig, weil sie das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, von dem Unsichtbaren des Virus und dem Sichtbaren der politischen und sozialen Folgen verstehbar machen. Auch die etwas spröderen fachwissenschaftlichen Kapitel, in denen sorgsam und wissenschaftlich stringent gezeigt wird, wie die Epidemiologie rechnet und welche Fehler dabei passieren können, sind der Lektüre zu empfehlen. Denn eine Pandemie wird man ganz ohne Mathematik nicht verstehen.
Besondere Zustimmung verdienen die Autoren, wenn sie gegen blinde Wissenschaftsgläubigkeit ebenso wie gegen Verschwörungstheorien das Ethos einer kritischen, aber auch selbstkritischen Wissenschaft hochhalten. Jedes wissenschaftliche Urteil muss auch in Frage gestellt werden und es ist geradezu eine der höchsten Tugenden einer aufgeklärten Öffentlichkeit, Erklärungsmodelle kritisch zu prüfen und Alternativen abzuwägen.
Der Ruf "Folgt den Wissenschaften!", wie er ja nicht nur im Zusammenhang mit Corona, sondern auch etwa in der Klimadebatte immer wieder ertönt, ist ebenso naiv und verfehlt wie sein Gegenstück, der pauschale Zweifel an wissenschaftlichen Methoden und Urteilen bis hin zu Verschwörungstheorien aus trüben Quellen im Internet. Die Corona-Pandemie zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, dass die Wissenschaft ihre Prämissen und Methoden offenlegt, Datentransparenz herstellt und sich dem kritischen Diskurs stellt, auch wenn die Zeit rast und die Stimmung aufgeheizt ist.
Sie zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass es eine informierte Öffentlichkeit gibt. Dazu gehören nicht nur Medien, die seriös und neutral informieren, sondern auch Bürgerinnen und Bürger, die sich auch einmal anstrengen, um komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen - und die es aushalten, wenn es die einfache Wahrheit, Schwarz oder Weiß nicht gibt. Zwischen Schwarz und Weiß ist es keineswegs grau, sondern voller spannender Facetten und Schattierungen. Der Band von Friedrun und Georg Quaas kann in diesem Sinne helfen, die Pandemie besser zu verstehen und ein eigenes Urteil zu bilden. Es ist dabei nicht nur ein weiteres "Buch zu Corona", sondern auch eine instruktive Fallstudie zur Interaktion von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit.