Aus der Einleitung des Beitrags:

Für die Einen ist soziale Sicherung ein weitgehend vermeidbares Übel, da es die Individuen zur Verantwortungslosigkeit erzieht, indem es ihnen die Risikovorsorge abnimmt. Aus dieser Sichtweise resultiert ein notwendiger Abbau der sozialen Sicherung, und es stellt sich nur die Frage, welche Risiken überhaupt noch gesellschaftlich zu tragen sind. Für die Anderen ist soziale Sicherung nicht nur eine Absicherung von Risiken, sondern sie soll auch über die Risiken hinaus gesellschaftliche Umverteilung erreichen, um bestimmte Gerechtigkeitsziele zu unterstützen. Zwischen diesen beiden Positionen tobt eine heftige Diskussion, die andeutet, dass es um mehr geht als nur die Frage, ob ein bestimmtes Risiko nun privat oder gesellschaftlich zu tragen ist. Es geht vielmehr darum, welche Aufgabenteilung zwischen Staat und Individuum grundsätzlich gelten soll. Wie viel Unterstützung kann das Individuum vom Staat oder der jeweiligen Solidargemeinschaft erwarten? Wie viel Unterstützung muss der Staat gewähren, wenn Individuen in Not geraten? Da diese Fragen weit in das Selbstverständnis des Gemeinwesens hineinreichen, kommt es sowohl zu ideologisch motivierten Schlagabtäuschen aus zementierten Positionen als auch zum Hinterfragen der Rolle des Staates.

Ökonomisch geht es aber auch darum, auf welche Weise Fehlallokationen zu vermeiden sind: Reicht es aus, die Marktkräfte wirken zu lassen und auf den Preis als Knappheitssignal zu vertrauen? Führt womöglich allein der frei operierende Markt zu einem allokativen Optimum? Oder ermöglichen erst bestimmte Eingriffe, die von Arbeitsschutzmaßnahmen über Ausbildungsanforderungen bis hin zu Kündigungsschutz und sozialer Mindestsicherung reichen, ein gutes Allokationsergebnis? Soziale Sicherungssysteme entfalten grundsätzlich in zweierlei Richtung allokative Relevanz: Auf der einen Seite sichern sie Risiken ab und sorgen so für größere Risikofreude der Bevölkerung oder bestimmter Gruppen. Auf der anderen Seite geben sie auch einen Anreiz, sich in das soziale Netz fallen zu lassen und darin liegen zu bleiben, wenn durch Erwerbstätigkeit nicht eine deutliche Verbesserung zu erreichen ist.

Ziel dieses Beitrags ist es, ausgehend von den grundlegenden Positionen in der Frage der sozialen Sicherung zu zeigen, dass die in den letzten Jahren angestoßenen Reformen der sozialen Sicherung keineswegs einheitlich in Richtung geringerer Leistungen deuten, sondern differenzieren zwischen verschiedenen Risiken, um Individuen einen Anreiz zu geben, selbst beeinflussbare Risiken zu reduzieren. Genau darin liegt auch der Beitrag der Institutionenökonomik: Sie kann zeigen, dass bei der Lösung des Anreizproblems deutlich vielfältigere Probleme zu lösen sind als nur eine Senkung von Leistungen und korrespondierenden Beiträgen. Sie zeigt aber auch, dass es ohne die Lösung des Anreizproblems kaum zu einer soliden Finanzierung der sozialen Leistungen kommen kann. Auch wenn also „große Fragen“ im Kontext der Reform der sozialen Sicherung zu stellen sind, liegen die zukünftigen reformleitenden Antworten doch vorerst im mühsamen Detail.

Abschnitt 2 erläutert kurz Ziele und Funktionen der sozialen Sicherung in Deutschland. Abschnitt 3 skizziert die Grundpositionen gegenüber der sozialen Sicherung und zeigt das korrespondierende Staats- und Individuenverständnis. Abschnitt 4 diskutiert vor diesem Hintergrund die grundsätzliche Reformperspektive für die Arbeitslosenversicherung. In 5. steht die Rentenversicherung im Mittelpunkt und in Abschnitt 6 geht es um die Reformstrategie in der Krankenversicherung. Abschnitt 7 zieht als Fazit, dass die generelle Reformperspektive die einer steuerfinanzierten Grundsicherung mit zusätzlichen privat zu finanzierenden Versicherungen für darüber hinaus gewünschte Leistungsansprüche sein muss.