"Ökologie und Wirtschaftsforschung" · Band 58
401 Seiten
36,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-89518-503-8
(Juli 2005)
Arten sterben aus, Lebensräume verschwinden. Es ist unbestritten, dass wir mit einem Verlust an biologischer Vielfalt konfrontiert sind, der uns politisches Handeln nahelegt. Doch was ist genau unter biologischer Diversität oder kurz Biodiversität zu verstehen? Wie kann man sie messen? Welche Auswirkung hat der Biodiversitätsverlust auf die gesellschaftliche Wohlfahrt? Fragen, mit denen sich nicht nur Wissenschaftler schwer tun, sondern erst Recht die politisch Handelnden, die durch möglichst zielorientierte und begründete Entscheidungen einen effektiven Schutz und eine nachhaltige Nutzung von Biodiversität ermöglichen sollten.
Aufbauend auf einer qualitativen Analyse populärer theoretischer Konzepte zur Definition, Messung und Bewertung von Biodiversität, werden im ersten Teil des Buches einige Handlungsregeln abgeleitet, die als Grundlage rationaler Biodiversitätspolitik dienen können. Im zweiten Teil werden aktuell existierende Biodiversitätspolitiken auf Basis dieser Handlungsregeln einer kritischen Prüfung unterzogen. Die Autoren beziehen sich dabei nicht ausschließlich auf nationale Politiken, sondern erweitern ihren Fokus auf die europäische Ebene.
Durch die integrierende Arbeitsweise der Autoren, die sich sowohl vom ökologischen als auch vom ökonomischen Standpunkt der Biodiversitätsproblematik annähern, können die wesentlichen Uneindeutigkeiten herausgestellt werden, die es zu beseitigen gilt, um Politiken weg vom irrationalen Aktionismus, hin zu konsistentem, kollektivem Entscheiden zu lenken.
"Wohin steuert die deutsche und die europäische Biodiversitätspolitik? Steuert sie überhaupt einen erkennbaren Kurs - oder befindet sie sich auf einer Irrfahrt, wie der Titel des Buches von Andreas Hoffmann, Sönke Hoffmann und Joachim Weimann andeutet? Der Hauptthese der Autoren nach fehlt es den politischen Steuerleuten nicht an einer groben Einigung über das Reiseziel, sondern an einer gemeinsamen Karte. Die Vorschläge der Autoren richten sich folglich in erster Linie an Politiker, die die gesellschaftliche Wohlfahrt durch eine möglichst gute Biodiversitätspolitik mehren wollen, sich aber reihenweise ungeklärten normativen und konzeptionellen Fragen gegenüber sehen. Zwar seien sich Politiker und Naturschützer über das - grob umrissene - Ziel einig, die biologischen Vielfalt zu erhalten und zu fördern. Für nicht unwesentliche Details fehlte es aber an einer wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Einigung: Was ist Biodiversität? Wie kann sie gemessen werden? Welchen Wert hat sie? Hoffmann et al. geben nicht vor, auf diese Fragen endgültige Antworten zu geben. In ihrem Beitrag zur Biodiversitätsdebatte entwerfen sie jedoch einen Regelkatalog, der "als Basis einer rationalen Biodiversitätspolitik" dienen kann.
Das gut 400-seitige Buch beruht auf Ergebnissen aus dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Programm BIOLOG zur Biodiversitätsforschung. Es ist in eine theorieorientierte und in eine praxisorientierte Analyse gegliedert. Im theorieorientierten ersten Kapitel werden Definitionsprobleme und Defintionsansätze für "Biodiversität" diskutiert und ausgewertet. Die Autoren kommen zum Ergebnis, allein eine "quasi-implizite" Definition habe Aussicht auf Erfolg, da sie die Beliebigkeit vollständig impliziter und den end- und ergebnislosen Diskurs um 'die einzig richtige' Definition vollständig expliziter Definitionsansätze vermeidet. Der vorgeschlagene Ansatz sucht den Inhalt von Biodiversität über einen Diskurs über die intendierten Wohlfahrtswirkungen der biologischen Vielfalt einzugrenzen.
Inhaltlicher Kern des ersten Kapitels ist der Vergleich von Biodiversitätsindices, die entweder auf Vielfalt (Richness) und Gleichverteilung (Evenness) der betrachteten Systemelemente beruhen (RE-Diversity; RED), oder die an der Unterschiedlichkeit der Eigenschaften (Attributes) einer betrachteten Menge an Systemelementen ansetzen (Attribute Diversity; AD). Überraschenerweise wird den RED-Ansätzen, zu denen auch der bekannte Shannon-Index gehört, eine hohe Nutzen- und Wohlfahrtsorientierung zugesprochen. Die AD-Ansätze (Weizmann, Nehring/Puppe) können rein taxonomisch ausgerichtet sein, aber auch "nützliche" Eigenschaften als Attribute berücksichtigen. Die Wohlfahrts- und Politikrelevanz wird hier dennoch geringer eingeschätzt. Kapitel 2 wird von einer kurzen Diskussion der ökonomischen Bewertung der Biodiversität abgeschlossen. Im dritten Kapitel werden auf Grundlage der voran gegangenen Untersuchungen Regeln für Definition, Messung, und Bewertung von Biodiversität eingeführt. Der Leser/in wird neben der Nutzung einer quasiimpliziten Definition beispielsweise ans Herz gelegt, Biodiversität als "Bridge-Term" aufzufassen, auf die Spannung zwischen Wohlfahrtsbezug und etymologischer Konsistenz zu achten und Artenvielfalt als alleiniges gesellschaftliches Schutzziel abzulehnen. Das kurze vierte Kapitel zur Biodiversitätserfassung eröffnet den praxisorientierten Teil. Es widmet sich vor allem den verschiedenen Indikatorenkonzepten, die zur Erfassung der Biodiversität derzeit eingesetzt werden. In Kapitel fünf wird die Entwicklung der EU Biodiversitätspolitik geschildert und analysiert; im folgenden Kapitel werden über die EU hinaus gehende, pan-europäische Initiativen betrachtet. Im abschließenden Kapitel 7 werden die nationalen Biodiversitätspolitiken des Vereinigten Königreichs, der Schweiz und der Bundesrepublik untersucht. Der praxisorientierte Teil mündet in sechs Empfehlungen für die Ausgestaltung einer nationalen Biodiversitätsstrategie. Im Anhang erläutern die Autoren Begriffe wie "ökonomische Rationalität" und geben eine tabellarische Übersicht über verschiedene ökonomische Bewertungsverfahren und Informationen zu grundlegenden internationalen Schutzabkommen gegeben.
Hoffmann et al. legen ihren Untersuchung durchweg einen wohlfahrtsökonomischen Maßstab an, der sich in Aussagen wie "Jedes politische Ziel verliert seine Legitimation wenn es auf einer Definition ohne Wohlfahrtsbezug beruht" oder "Der ökonomische Wert von Biodiversität stellt letztlich den Kern rationaler Biodiversitätspolitik dar" äußert (S. 71, S. 54; Hervorhebung Hoffmann et al.). Auch wer diesen Aussagen nicht ungeteilt zustimmt, wird aus dem Beitrag großen Nutzen ziehen können, da der Blick geschärft wird für die unvermeidbaren - aber vielleicht wichtiger noch - auch für die vermeidbaren Probleme einer rational(er)en Biodiversitätspolitik. Die vorgeschlagenen Empfehlungen machen durchgängig Sinn und können Praktiker/innen wie akademisch Interessierten ohne inhaltlich nennenswerte Einschränkung ans Herz gelegt werden.
Einige Aspekte der Präsentation haben mir weniger gut gefallen. So wird auf Seite 27 behauptet, eine Definition biologischer Vielfalt könne den Begriff "vollkommen eindeutig machen"; als Beispiel führen die Autoren dann aber "Biodiversität ist die Anzahl Arten" an. Angesichts der Probleme des Artbegriffs, oder schon der reinen Zählung aller Arten an einen - wie einzugrenzenden? - Raum-Zeitpunkt erscheint diese Definition nicht wirklich "vollkommen eindeutig". Der Abschnitt zu wissenschaftstheoretischen Aspekten der Definition von Biodiversität spricht das in der Tat grundlegende Problem des Verhältnisses beschreibend-positiver und normativer Definitionsansätze zwar an, diskutiert die Problematik jedoch selektiv und oberflächlich. So anerkennenswert das Bemühen der Autoren um lebensweltliche Beispiele ist: Ist es wirklich hilfreich, implizite Biodiversitätsdefinitionen damit zu erläutern, dass eine Kugel Vanilleeis von den meisten Kleinkindern als "wirksames Mittel gegen Tränen definiert" wird? Stattdessen wird auf die wichtige Unterscheidung von wertfrei und werturteilsfrei verzichtet (S. 70f); ebenso auf die Unterscheidung von deskriptiven und normativen Indikatoren (S. 263 ff). Eigentümlich ist auf S. 35 die Behauptung, die verschiedenen Definitionen von Biodiversität operierten in einem "weitestgehend normfreien Raum", gibt es doch immerhin die völkerrechtlich bindende Convention on Biological Diversity (CBD). Die direkt an die CBD Definition anschließende Unterscheidung in genetische, Art- und Ökosystem-Diversität wird meiner Erfahrung nach weitgehend akzeptiert. Trotzdem wird die CBD-Definition im Gegensatz zu skurrilen Definitionsansätzen wie "I do not have a definition of biodiversity" nicht in Tabelle 2.1 "Exemplarische Zulässigkeitsprüfung von vorherrschenden Biodiersitätsdefinitionen" aufgenommen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Zudem wird in mehreren Schwarz-Weiß Abbildungen in der Erklärung auf farbige Flächen Bezug genommen; es gibt aber weder Farbe noch Schraffuren.
Die leichten Schwächen in der Darstellung können aber über den inhaltlichen Wert des Beitrages nicht hinweg täuschen: Das Buch von Hoffmann et al. ist ein verlässlicher Wegweiser zu einer besseren europäischen und nationalen Biodiversitätspolitik."