395 Seiten
29,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1036-6
(30. Januar 2014)
Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen, zahlreiche Abbildungen
Eine deutsche Ideengeschichte der USA liegt bisher nicht vor. Das deutsche Bild der US-amerikanischen Ideenlandschaft besteht aus vergleichsweise wenigen einsamen Höhen, repräsentiert durch die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassungsdebatte und einige unter dem Titel "Pragmatismus" subsummierte Philosophen. Für die übrigen Zeiträume klafft eine große Lücke. Die vorliegende Ideengeschichte - 25 Porträts aus dem 17.-20. Jahrhundert - soll dem durch eine Fülle an Schriften von politisch tätigen "public intellectuals" abhelfen. In jedem Porträt werden auch die jeweils wichtigsten Werke gesondert vorgestellt.
Der Titel "Mythen und Kritik" deutet an, dass auch in der "liberal democracy" der USA eine Legendenbildung stattfand, die heftig umstritten war: etwa um die Realität von Chancengleichheit und Freiheit. Auch Legenden um historische Ereignisse wie das Zustandekommen der Verfassung (Charles Beard), die Black Reconstruction nach dem Bürgerkrieg (W.E.B. Du Bois) und den Eintritt der USA in die beiden Weltkriege wurden destruiert.
Die 25 Porträts sind jedoch keine Filiation "fortschrittlicher" Figuren im Sinne eines "anderen", die realen Verhältnisse verfälschenden Bildes der USA, denn zahlreiche Kritiker amerikanischer Mythen schrieben aus der Perspektive des "conservative thought". Dazu gehören der Calvinist Jonathan Edwards, Gründervater John Adams, die Sklavereibefürworter John Calhoun und George Fitzhugh, der Sozialdarwinist William G. Sumner, der Theologe Reinhold Niebuhr oder der Journalist Walter Lippmann.
Das Buch macht deutlich, dass das in Europa aktuelle Thema "gender, race, class" in den USA bereits vor mehr als einem Jahrhundert auf hohem Niveau diskutiert wurde.
"Für bemerkenswert und dem Zweck dieser Geistesgeschichte maximal entsprechend finde ich die an und für sich seltene und auf den ersten Blick überraschende Darbietungsart des umfänglichen, sich über ein halbes Jahrtausend erstreckenden Stoffes. Diese besteht darin, ihn statt in wie meist üblich historisch oder thematisch geordneten Kapiteln in insgesamt 25 individuellen Porträts nord-amerikanischer Denker, Politiker und Publizisten aus allen Zeitabschnitten US-amerikanischer Geschichte vorzuführen. Dieses Verfahren eignet sich einzigartig zur geistigen Spiegelung der einzelnen Geschichtsetappen und ethnischen Fraktionen eines Landes, das im Verlauf einer komplizierten Ethnogenese aus zwangsweise oder zufällig im Lauf der Kolonialgeschichte zusammenwürfelten Völkerschaften mit ganz verschiedenen populations- und generationsspezifischen Erfahrungen zu einer multirassischen und polyethnischen Nation wurde ̶ ein in Europa gänzlich ungewöhnlicher Vorgang. Übliche systemische oder historisierende Zusammenfassungen hätten das Bild in starkem Maße abgefälscht und die zu Europa bestehenden Differenzen minimiert, so verschieden waren die jeweiligen Herkunftskulturen und die Prozesse ihres oft lange verzögerten Zusammenwachsens ̶ im Unterschied zu den kulturell wie historisch relativ homogenen Völkern des alten Europa. Nicht zufällig spielten die komplizierten Beziehungen zwischen den "weißen", eurostämmigen Anglo-Amerikanern, die 1776 an die Stelle der britischen Kolonialmacht traten, einerseits, und den autochthonen indigenen bzw. aus Afrika als billige Arbeitskräfte zwangsimportierten Negersklaven andererseits, eine erschwerende und verzögernde Rolle beim "nation building". Das wird schon erkennbar bei Gründung der USA im vergeblichen Versuch der Väter der Nation ̶ Jeffersons, Franklins (ein "Aufklärer ohne Utopie") und Adams ̶, die mit der USA-Verfassung gleichgesetzten "Menschenrechte" mit der Sklaverei der Schwarzen und der Unterdrückung und Entrechtung der Ureinwohner (der fälschlich sogenannten "Indianer") zu verbinden.
(p> Als sehr stark, ja als in jeder Hinsicht beeindruckend empfand ich die Kapitel "Frauenrecht, Minderheiten und Religionskritik" und "Absage an Kinder, Küche und Frauenrolle", in denen welteinmalige Parforceleistungen tapferer und unermüdlich in der Öffentlichkeit für die Emanzipation auftretender USA-Frauen gewürdigt werden. Zu ihnen gehören die aus Berlin stammenden Geschwister Sarah und Angelina Grimké, für welche es im damaligen Europa keine auch nur annähernde Parallele gab: das Kuriose und Einmalige an diesen von Sylvers wiederentdeckten Heldinnen des amerikanischen Alltags ist jedoch, dass sie ursprünglich lediglich für die Abschaffung der Sklaverei und gar nicht für ihre eigene Emanzipation agierten bzw. agitierten - laut Abraham Lincoln gab erst eine Frau, die Schriftstellerin Harriet Beecher-Stowe mit ihrem Bestsellerroman Onkel Thoms Hütte das endgültige Signal zur Abschaffung der Sklaverei. Doch als diesen USA-Frauen als Frauen auf dem Londoner Antisklaverei-Kongress aus antifeministischem Vorurteil heraus der Zutritt zum Verhandlungssaal verweigert wurde, vereinigten sie ihren Kampf für die Sklavenbefreiung mit der Forderung nach weiblicher Emanzipation. Diese Lesestücke aus dem Alltagsleben der USA fesselten mich fast noch stärker als die rhetorischen Glanzstücke der politischen Wortführer der Abolitionisten. ...(p> Sylvers/Sylvers haben ein bemerkenswertes Buch über die kritische wie mythologisierende Selbstdarstellung der USA mit großem Erkenntniswert für den deutschen Leser verfasst, das zum Abbau mancher Vor- und Fehlurteile beitragen kann. (p> Diese Darstellungen der Sylvers belegen, dass im politischen Alltag und in der Öffentlichkeit der USA im 19. Jahrhundert ein direkt-demokratisches Gemeindeleben vorgeherrscht haben muss, das es in Deutschland nie gab und auch im übrigen Europa selten vorkam und das den Mythos von den USA als Mutterland der Demokratie durchaus rechtfertigte. Der Demokrat Abraham Lincoln legte großen Wert auf den direkten Dialog mit Menschen aus dem Volk, auf den damals traditionellen "öffentlichen Diskurs" auch mit dem Mann von der Straße. Diesem USA-typischen demokratischen Direktdiskurs sagte der US-Medienkritiker Neil Postman in seinem Bestseller Wir amüsieren uns zu Tode nach, dass er "kohärent, ernsthaft und rational" geführt wurde, jedoch unter der Vorherrschaft des Fernsehens dieser direkte Dialog verkümmerte und verschwand."Die ausdrücklich auch für den Nichtfachmann geschriebenen verständlichen Skizzen enthalten jeweils eine kurze Einführung, Biographie und Zeitgeschichte. Sie bleiben aber stets auf die Personen, ihre persönlichen Hintergründe, Motive und auch biograpischen Zufälle konzentriert. Hinter den meist 10-15 Seiten umfassenden Portraits, die durch ein Bildportrait und wenige, ausgewählte Literaturangaben eingerahmt werden und mit einem (heute seltenen) umfassenden Personenregister am Ende, steckt eine Menge Arbeit und Kompetenz der Autoren, die sich sicher über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, mit der Materie befassten. Die Autoren haben ein feines Sprachgefühl, das Buch liest man auch diesbezüglich mit intellektueller Freude. ...
Nach einem sehr ansprechenden informativen und detaillierten Überblick über die Ideengeschichte in den USA setzt das Buch - zum Teil auch weniger bekannten - philosophisch anwendungsorientierten redlich Strebenden ein kleines und feines Denkmal und lässt die bunte Vielgestaltigkeit der Vorschläge und Ideen über drei Jahrhunderte exemplarisch aufscheinen. Den Leser umweht bei der Lektüre auch ein gewisses tragisches Gefühl der Vergänglichkeit des ehemals Gedachten und für richtig Befundenen. Es ist gut, dass mit diesem Buch den zurzeit niederschmetternden Erfahrungen Europas mit der Politik der USA ein Kontrapunkt gesetzt wird, der das nach wie vor bestehende wertvolle geistige Potential des Landes zum Ausdruck bringt und Brücken der Gemeinsamkeit andeutet, die hyperglobalisierter Freihandelsabkommen eigentlich nicht bedürfen."
"Im Zentrum des Buchs stehen die oft religiös inspirierten Reformtraditionen und die Kritk des amerikanischen Kapitalismus, aber die als streitbare Linke bekannten Verfasser porträtieren auch Apologeten der Sklaverei (John C. Calhoun und George Fitzhugh), Sozialdarwinisten (William Graham Sumner) und skeptische Konservative (Walter Lippmann und Reinhold Niebuhr) mit Empathie für deren intelektuelle Welten. Mit ihrem durchgängigen Verweis auf die Verbindungen zur europäischen und deutschen Ideengeschichte distanzieren sich die Autoren bewusst vom "American Exeptionalism", also vom Mythos, die USA nähmen eine geistige und moralische Sonderstellung in der Geschichte ein. Zu diesem Mythos gehören der "amerikanische Traum" vom sozialen Aufstieg in einer vermeintlich klassenlosen Leistungsgesellschaft und die Vorstellung von der Selbstdurchsetzung der Freiheit und Demokratie, deren Kritik das Leitmotiv vieler Beiträge bildet.
Insgesamt wird das Buch seinem Anspruch, deutschen Lesern eine informative und kompetente Einführung in die US-Ideengeschichte zu geben, durchaus gerecht."