"Die Wirtschaft der Gesellschaft" · Band 6
462 Seiten
36,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1438-8
(29. März 2021)
In der Dienstleistungsgesellschaft erkannte der französische Ökonom Jean Fourastié die "große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts". Aufgrund des technischen Fortschritts, so seine Prognose vor 70 Jahren, würden zwar immer weniger Arbeitskräfte in Landwirtschaft sowie produzierendem Gewerbe benötigt, aber immer mehr Personen in den Dienstleistungen beschäftigt. Ein Ergebnis dieses Strukturwandels wären nicht nur hohe, sondern auch wesentlich gleichere Arbeitseinkommen. Längst angekommen in der Dienstleistungsgesellschaft sind wir heute - entgegen den Hoffnungen Fourastiés - mit einer extremen Ungleichheit in den Dienstleistungsberufen konfrontiert. In diesem Jahrbuch blicken Vertreter*innen verschiedener Disziplinen auf den aktuellen Wandel der Dienstleistungsarbeit und dessen soziale Folgen. Im Fokus steht dabei neben der Sorgearbeit als personenbezogener und haushaltsnaher Dienstleistung auch die unbezahlte Sorgearbeit. Aus verschiedenen Blickwinkeln geht es um die Frage: Führt der Wandel der Arbeit "zurück in die Zukunft" ausbeuterischer Dienstbot*innenverhältnisse oder gelingt es, eine Entwicklung in Richtung der Fourastié'schen Vision einer demokratisch-egalitären Dienstleistungsgesellschaft einzuschlagen?
Teil I - Die enttäuschte Hoffnung - Risiken und Chancen der Tertiarisierung
Hagen KrämerTeil II - Problemlagen und Spannungsfelder der formellen Erwerbsarbeit in sozialen Dienstleistungen
Stephan VoswinkelTeil III - Informelle Sorgearbeit in der Dienstleistungsgesellschaft
Friederike BahlTeil IV - Ökonomisierung statt Demokratisierung: Akteure und Interessenskonflikte in der Dienstleistungswirtschaft
Karl GabrielTeil V - Staatliche Dienstleistungspolitik
Uta Meier-Gräwe"Der hier zu besprechende, von Bernhard Emunds, Julia Degan, Simone Habel und Jonas Hagedorn herausgegebene Band stellt diesbezüglich insbesondere die Dynamiken in den haushaltsnahen bzw. personenbezogenen Dienstleistungen in den Mittelpunkt, in denen die Polarisierungen der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse auf markante Art und Weise sichtbar werden. Emunds et al. konstatieren, dass »in den letzten drei Jahrzehnten in den meisten europäischen Staaten die Zahl der flexiblen, prekären Arbeitsverhältnisse unterhalb des Absicherungs- und Integrationsniveaus wohlfahrtsstaatlicher Standards« (13) deutlich zugenommen hat. Dies sei in der BRD darauf zurückzuführen, dass der Niedriglohnsektor und Formen atypischer Beschäftigung seit 1990 gezielt ausgebaut wurden. Dies treffe im besonderen Maße auf haushaltsnahe und personenbezogene Dienstleistungen bzw. Care- und Sorgearbeit zu. Emunds et al. betonen im einleitenden Aufsatz, dass diese Entwicklungen zum einen an die prekäre, bestenfalls unvollständige Anbindung von Frauen oder Migrant*innen an die fordistischen Normalarbeitsverhältnisse anknüpfen können. Unter Berufung auf Cornelia Klinger und Margrit Brückner verweisen sie zum anderen darauf, dass Care- und Sorgearbeit - unabhängig von ihrer spezifischen Organisationsweise im Haushalt oder über Marktprozesse - traditionell als vor allem weiblich konnotierte Aktivität personenbezogener Fürsorge und Pflege verstanden werden, die menschliches Leben ermöglichen und unterstützen. Diese Tätigkeitsbereiche stünden in kapitalistischen Gesellschaftsformationen im Spannungsfeld von Freiheit (verstanden als rechtsstaatlich garantierte, negative Freiheit von staatlicher Bevormundung), Gleichheit (reduziert auf ein Prinzip der Rechtssphäre) und Selbstausbeutung (vgl. 16). Angelehnt an Hans-J. Pongratz, der auch einen Aufsatz zu diesem Thema im Band hat (s.u.), verstehen sie unter Selbstausbeutung Arbeiten, die von den sie Ausübenden verlangen, dauerhaft und systematisch an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu gehen.
Der vorliegende Band enthält mehrheitlich Aufsätze einer interdisziplinären Fachkonferenz aus dem Jahr 2019, die von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und dem Nell-Breuning-Institut veranstaltet wurde und sich unter dem Titel »Freiheit, Gleichheit, Selbstausbeutung« mit der Zukunft der Demokratie und des Sozialstaates auseinandersetzte. Der Band umfasst insgesamt 19 Aufsätze und ist in fünf Abschnitte gegliedert. ...
Neben diesen grundlegenden Reflexionen zeigen die Aufsätze aber auch, dass die Entwicklungen staatlicher Aktivitäten von zumindest zwei Tendenzen geprägt sind, die weniger dazu beitragen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und die Selbstausbeutung der Arbeitskräfte zu überwinden, als vielmehr dadurch, sie weiter nutzbar zu machen. Die Aufsätze von Uta Meier-Gräwe (367-390) über haushaltsnahe Dienstleistungen und Hildegard Theobald (391-418) zur 24h-Betreuung zeigen, dass die staatlichen Aktivitäten in diesen Bereichen im besten Fall als lückenhaft und unvollständig zu charakterisieren sind und vor allem versuchen, durch begrenzte Regulierungen den Zugriff auf das informalisierte Arbeitsvermögen der weiblichen Arbeitskräfte zu sichern, um Sorgelücken der Mehrheitsgesellschaft zu bewältigen, auch wenn problematische Auswirkungen auf formalisierte Bereiche der Pflege manifest werden, wie Theobald betont.
Abschließend möchte ich feststellen, dass der vorliegende Band von Emunds, Degan, Habel und Hagedorn zur Zukunft der Sorgearbeit in der Dienstleistungsgesellschaft einen sehr guten Überblick über wesentliche Aspekte der wissenschaftlichen wie auch gesellschaftspoliti- schen Debatten gibt und daher nicht nur für Forscher*innen, sondern auch Praktiker*innen in diesem Bereich wichtige Einsichten und Anregungen bereithält."
Wer sich mit postpatriarchaler Ökonomie befasst, entdeckt immer mehr Fragen auf immer mehr Ebenen, die alle auf irgendeine Weise damit zusammenhängen, dass der mit Abstand grösste Wirtschaftssektor der un- und unterbezahlten Care-Arbeit in wissenschaftlichen, medialen und Alltagsdiskursen bis heute nicht angemessen wahrgenommen und reflektiert wird:
Wo liegen die Ursprünge dieser eigenartigen Ausblendung? Welche Folgen hat sie für die direkt Beteiligten und für das Zusammenleben aller im verletzlichen Lebensraum Welt? Wie kommt es, dass ein seit Jahren wachsender Pflegenotstand in einer reichen, sich digitalisierenden Gesellschaft bis heute kaum zur monetären und statusmäßigen Besserstellung der Sorgenden und Pflegenden geführt hat? Warum hat sich die Prognose des Ökonomen Jean Fourastié (1907-1990), es werde aufgrund des technologiegetriebenen Strukturwandels zu einer dauerhaften, qualifizierten Vollbeschäftigung im tertiären Sektor kommen, nicht erfüllt? Mit welchen Arrangements füllen Gesellschaften die Versorgungslücken, die durch die Auflösung traditioneller Familienstrukturen einerseits, die zunehmende Vermarktlichung des Dienstleistungssektors andererseits entstehen? Warum gelingt es den un- und unterbezahlten Care-Arbeitenden insgesamt so schlecht, ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen?
Wer sich mit postpatriarchaler Ökonomie befasst, freut sich, dass solche Fragen auch andere Leute umtreiben und dass diese Leute sogar schon vor dem Einschnitt der Corona-Pandemie, in der die Frage nach einer sorgenden Gesellschaft unerwartet an Brisanz gewonnen hat, hochkarätige Konferenzen dazu veranstaltet haben. Die Ergebnisse einer dieser Konferenzen (Frankfurt, 30.9./01.10.2019) können jetzt, in aktualisierter Form, als sechstes Jahrbuch der Reihe "Die Wirtschaft der Gesellschaft" von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (Heidelberg) und dem Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik (Frankfurt a.M.) publiziert, als verlässliche Wissensquelle für eine postpandemische Politik des guten und gerechten Zusammenlebens genutzt werden.
In achtzehn Beiträgen vertiefen sich zwölf Wissenschaftlerinnen und neun Wissenschaftler aus Soziologie, Sozialethik, Arbeitswissenschaft, Gerontologie, Volkswirtschaftslehre, Politologie, Familien- und Haushaltswissenschaft in die Analyse der vielfältigen, in lebhafter Bewegung befindlichen Gegenwartslandschaft der Daseinsfürsorge vor allem in Deutschland und Österreich. Zusammen mit zahllosen Verweisen auf abgeschlossene oder laufende Forschungsprojekte vermitteln die Texte den Eindruck einer sich zunehmend vernetzenden Erkenntnisbemühung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein Gemeinwesen zu entwerfen, in dem Menschen aller Geschlechter und Zugehörigkeiten in Gerechtigkeit und Sicherheit füreinander sorgen.
Das in Belgien erfolgreich praktizierte Modell subventionierter Gutscheine für haushaltsnahe Dienstleistungen (Uta Meier-Gräwe) kommt in diesem interdisziplinären Austausch ebenso zur Sprache wie unterschiedlich (un)geregelte transnationale Sorgeketten (Friederike Bahl, Simone Habel) oder Experimente mit hauswirtschaftlichen Genossenschaften (Anneliese Durst und Ilona Ostner). Gefragt wird nach der Zukunft des Ehrenamts (Tine Haubner), den Gründen für die seltsame Diskrepanz zwischen moralischer Hochschätzung und monetärer Prekarität im Pflegesektor (Stephan Voswinkel), dem gespannten Verhältnis zwischen traditionellen Gewerkschaften und Menschen in Pflegeberufen, insbesondere in der Alterspflege (Wolfgang Schroeder), der problematischen Rolle des Begriffs "Dienstgemeinschaft" in den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden (Karl Gabriel) oder den Mechanismen der Selbstausbeutung in einem zunehmend marktförmig organisierten Care-Gewerbe. Während die meisten Beiträge sich im Rahmen eines kritischen Reformismus bewegen, weisen insbesondere Paul Mason und Gabriele Winker in ihren Texten über die gegebenen Traditionslinien des klassischen Wohlfahrtsstaates hinaus in eine postkapitalistische, grundlegend neu strukturierte Gesellschaft, "in der die Trennung zwischen entlohnter und unentlohnter Arbeit aufgehoben ist und in der es gelingen kann, jenseits von Geld und Tausch die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen." (Gabriele Winker, 457)
So kommt am Ende dieser äußerst material- und erkenntnisreichen Textsammlung der "System Change" in Sicht, eine Perspektive, die, so ist zu hoffen, in naher Zukunft die Bewegung für eine würdige Organisation menschlicher Daseinsfürsorge mit den Bemühungen um ökologische Nachhaltigkeit im Zeichen des Klimawandels zusammenführen wird.
Die Kostenkrankheit von Dienstleistungen als soziale Frage
Doch nicht so krank?
Ausbau personenbezogener und haushaltsnaher Dienstleistungen oder Entkommerzialisierung des Privaten?
From class society to Postcapitalism
Die Anerkennungsfalle
Selbstausbeutung
Subjektivierte Taylorisierung in (digitalisierten) sozialen Dienstleistungen
Die Politik der Sorge unter Transnationalisierungsdruck
Die neuen Akteure auf dem „grauen Markt“
Ehrenamt als Arbeit?
Auf dem Weg in eine faire Dienstleistungswirtschaft
„Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“
Interessenvertretung und Demokratie in der Dienstleistungsgesellschaft
Sorgekämpfe im sorglosen Kapitalismus
Zukunftsperspektiven haushaltsnaher Dienstleistungen jenseits von Schwarzarbeit und Prekarität
Gute Arbeit in der Pflege?
Wohlfahrtsstaat und personenbezogene Dienste im 21. Jahrhundert
Care statt Profit