Das Nachdenken über den Kapitalismus und seine Krisen steht vor der Herausforderung, dass wir zur Zeit über keine Gesellschaftstheorie verfügen, welche die vom neoliberalen Kapitalismus geprägte Gesellschaft adäquat erklären kann.
Im vorliegenden Band versuchen Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, aktuelle gesellschaftstheoretische Fragen zu umreißen.
Im ersten Teil geht es um grundlegende Positionen und Fragen einer zeitgemäßen Gesellschaftstheorie: Warum besitzt die moderne ökonomische Theorie kein Konzept von Gesellschaft? Braucht die neoliberale Gesellschaft einen Gesellschaftsvertrag? Wie verträgt sich die neoliberale Propaganda mit der von ihr behaupteten wissenschaftlichen 'Objektivität'? Ist eine Gesellschaft ohne Geld vorstellbar?
Der zweite Teil vereint spezielle Ansätze und Befunde, die einen Gesamtblick auf die Gesellschaft versuchen. Wie brauchbar sind die Regulationstheorie und Foucaults Konzept von Gouvernementalität? Ist der Neoliberalismus ein politisches Projekt? Hat eine neoliberale Kuturrevolution stattgefunden? Gibt es in der modernen Gesellschaft eine Tendenz zur Brutalisierung? Und schließlich: Was wäre eine 'menschliche Gesellschaft'?
Die Beiträge dieses Bandes wollen einen Anstoß für weiterführende Überlegungen über die aktuelle Gesellschaft geben. Das perspektivische Ziel ist ein neuer Blick auf den Kapitalismus.
Katrin Hirte und Walter Otto Ötsch
Vorwort
Grundlagen
Reinhard Pirker
Über die Schwierigkeit ökonomischer Theorie, Gesellschaft (mit-)zudenken
Jürgen Nordmann
Braucht die aktuelle Gesellschaft einen Gesellschaftsvertrag? Der politische Neoliberalismus im Spiegel von John Locke und John Rawls
Claus Thomasberger
,Sein und Bewusstsein'. Propaganda und ,objektive Realität' in den neoliberalen Gesellschaften
Karl-Heinz Brodbeck
Kann das Geld abgeschafft werden? Reflexionen zur monetären Vergesellschaftung
Spezielle Ansätze und Befunde
Andrea Grisold
Zwischen Zähmung und Entfaltung. Der regulationstheoretische Ansatz
Stefanie Wöhl
Die Regierung der Gesellschaft. Die Gouvernementalitätsperspektive Michel Foucaults und staatliche Governance
Jan Schlemermeyer
Ist der Neoliberalismus ein politisches Projekt? Zur gesellschaftstheoretischen Fundierung der Hegemonietheorie durch die Neue Marx-Lektüre
Olaf Jann
"Dead man walking". Über neofeudale Demokratie und kapitalistischen Ausnahmezustand
Roman Langer
Dynamik der Brutalisierung. Eine Skizze des Zusammenwirkens zentraler Herrschafts- und Anpassungsmechanismen in der Gegenwartsgesellschaft
Anstelle eines Schlusswortes
Frank Deppe
Was wäre eine menschliche Gesellschaft - trotz Globalisierung und Wirtschaftskrise?
Portal für Politikwissenschaft, www.pw-portal.de, veröffentlicht am 02.08.2012
(Thomas Mirbach)
"Das Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die makroökonomische und kulturwissenschaftliche Sichtweisen des Wirtschaftssystems verbinden will. 2009 an der Johannes Kepler Universität Linz gegründet, verfolgt das Institut eine Programmatik, die explizit gegen den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream gerichtet ist und die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise auch als Krise der ökonomischen Theorie versteht. Vor dem Hintergrund dieser Krise war das Verhältnis von Ökonomie und Politik Thema der 2010 durchgeführten zweiten Jahrestagung des Instituts. Die gegenwärtige Situation - so die Herausgeber dieser Tagungsdokumentation - ist von der Erfahrung geprägt, dass der neoliberale Kapitalismus gestärkt die Krise verlassen hat, die Politik rettete ihn auf drastische Weise. Zugleich fehlt jedoch - anders als noch in den 1980er-Jahren - eine Gesellschaftstheorie, die diese neue Konstellation angemessen erklären könnte. Die Beiträge setzen sich mit dem Konzept einer (re-)aktualisierten Theorie der Gesellschaft in zwei Schritten auseinander. Zunächst wird - anhand theoriegeschichtlicher Fragen nach der Bedeutung von Institutionen, Legitimität, Ideologie und Geld in der neoliberalen Gesellschaft - der allenfalls rudimentär ausgebildete Gesellschaftsbezug heutigen ökonomischen Denkens behandelt. Im zweiten Teil diskutieren die Autoren teils neuere theoretische Ansätze wie Regulationstheorie und Governmentality Studies, teils aktuelle gesellschaftliche Tendenzen wie Erosion der Demokratie und Funktion des Staates, Rolle von Eliten und Anzeichen einer zunehmenden Brutalisierung von Gesellschaft. Abschließend entwirft Frank Deppe die Möglichkeit einer Domestizierung der imperialen Tendenzen der Finanzwirtschaft durch eine Rückkehr des Staates."