"Jahrbuch Nachhaltige Ökonomie"
356 Seiten
29,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1339-8
(September 2018)
Das Schlagwort Digitalisierung ist aus keiner wissenschaftlichen und politischen Diskussion um die Zukunft des Wirtschaftens mehr wegzudenken. Mit der Digitalisierung gehen Chancen einher, aber auch große Herausforderungen. So kann sie nur menschenwürdig gestaltet werden, wenn sie die Prinzipien des nachhaltigen Wirtschaftens einhält.
Der Brennpunktbeitrag von Michael Müller, Holger Rogall und Peter Hennicke stellt das Memorandum "Unsere Verantwortung für eine zukunftsfähige Gesellschaft - Für eine sozial-ökologische Transformation zu einem nachhaltigen Wirtschaften" vor. Anschließend gliedert sich das Jahrbuch in vier wiederkehrende Themenkomplexe. Im Sinne der Publikationsreihe bleiben die Beiträge dabei nicht nur auf das Brennpunktthema begrenzt, sondern erweitern den Blick auf aktuelle Forschungsbeiträge, die von Mitgliedern des Netzwerks Nachhaltige Ökonomie behandelt werden. Anschließend werden die zentralen Trends der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts skizziert.
Die meist mit akademischem Hintergrund, aber auch Praxisbezug verfassten Beiträge wirken oft wie Bausteine eines rotgrünen Politprogramms. Es gibt Hinweise auf einzelne Instrumente, mögliche Tücken und institutionelle Lücken. Das mag nicht der Lesestoff sein, den vom Wahlkampf ermattete Kandidatinnen und Kandidaten jetzt zur Erholung brauchen. Trotzdem ist er ihnen wie den Wählenden zu empfehlen. Mit dem Einbezug eines grösseren Umfeldes wird Politik von zu leichten Parolen gelöst. Das kann naive Erwartungen dämpfen und sachlicher Weiterarbeit dienlich sein.
Es ist erfreulich, dass nun auch die 2015 von den Vereinten Nationen proklamierten Ziele einer nachhaltigen Entwicklung in die Jahrbuchbilanzen einbezogen werden. Die dort in siebzehn ‹Sustainable Development Goals› explizit globalen sozialen Akzente tragen dazu bei, einseitig ‹grüne› Optiken zu vermeiden. Die inneren Widersprüche der sogenannten SDG - zumal bezüglich Wachstum - sind nicht tabu. Wo darf, ja müsste sogar weiteres Wachstum angestrebt werden? Lassen sich Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie überhaupt im Rahmen der herrschenden Wirtschaftsordnung entschärfen? Mit solchen Fragen wird differenziertes Denken gefördert.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Betrachtung zweier Autoren, die 2018 einen Leitfaden zur Umsetzung der SDG für kleine und mittlere Unternehmen publizierten. Giesenbauer und Müller-Christ stellen fest, die UNO-Proklamation habe insbesondere in Deutschland «eine erstaunliche Dynamik» entfaltet. «Auch wirtschaftsnahe Institutionen werben für die Ziele mit Broschüren und Tagungen.» Hat das Konsequenzen? Während «seit der Jahrtausendwende die Debatte um nachhaltige Entwicklung stetig» zugenommen habe, verstärkten sich «parallel dazu neoliberale und einseitig auf Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaftsprozesse». Für das Management blieben zumeist kurzfristige Gewinninteressen bestimmend. Das ändere sich wohl erst, «wenn es massiven gesellschaftlichen Druck oder spürbaren Ressourcenmangel gibt».
Da überrascht es, wenn ausgerechnet ein Lebensmitteldiscounter wie Aldi Süd auf seiner Homepage die SDG-Ziele beschreibt und zu jedem noch eine von ihm selbst gestartete «gemeinwohlorientierte» Initiative anführt, samt entsprechenden Links. Greenwashing oder er(n)ster Schritt? Darüber wollen und können die Verfasser nicht entscheiden. Es geht um die hier sichtbar werdende Auseinandersetzung, um einen Prozess, bei dem sie vier sich folgende, oft überschneidende Entwicklungsstufen skizzieren: Einhaltung von «Ordnung & Gesetz», «Öko-Effizienz & Wettbewerbsvorteile», «Rücksicht aus Überzeugung», am Ende bestenfalls ein gelingendes «systemisches Widerspruchsmanagement». Vorsichtig ordnen sie das Aldi-Exempel irgendwo zwischen den Stufen 2 und 3 ein. Bei so anspruchsvollen Globalzielen ist die Fähigkeit zu üben, unterschiedliche Perspektiven gleichzeitig einzunehmen und Spannungen auszuhalten. Resultieren müsste «ein lösungsorientiertes Handeln, losgelöst von Dogmen und Lagerkämpfen». Klingt vernünftig und hoffnungsvoll. Nach dem Lesen der Analyse vernahm ich, Lidl Schweiz streiche mit Argumenten des Klimaschutzes als erster Grossverteiler alle per Flugzeug importierten Gemüse und Früchte aus dem Sortiment. Noch so ein Anfang?
Eine andere der rund zwanzig Kurzanalysen fragt mit Blick auf die Chancen nachhaltiger Ökonomie nach der Bedeutung der chinesischen Investitionen für die neue Seidenstrasse. Das möglicherweise «grösste Projekt der Weltgeschichte» ist zwar wenig transparent, aber eine im Internet zugängliche Datenbank listet auf, was wo begonnen wurde. Registriert sind schon gegen 3000 Einzelvorhaben: Eisenbahnen, Strassen, Häfen. Bei der offiziellen Lancierung lud China alle einbezogenen Länder zum Entwickeln einer Langfriststrategie ein. Davon war dann wenig zu vernehmen. Im derzeit «noch relativ frühen Stadium wären zwar Gestaltungspotenziale und -erfordernisse für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft» vorhanden. Doch primär wird nun gebaut. Ähnlich diffus scheint die Situation bei der E-Mobilität, die ein wichtiges Element der Verkehrswende werden soll, ohne dass zentrale Fragen geklärt wären - von Stromversorgung über die benötigten Rohstoffe bis hin zum Postulat der Verkehrsvermeidung.
Schwerpunkt des neuen Jahrbuchs sind Wirkungen der Digitalisierung. Christine Lacher zum Beispiel fragt, was das enorme Wachstum bei Onlinehandel und Paketdiensten im innerstädtischen Verkehr an neuen Herausforderungen bringt. Helfen da Lastenfahrräder, E-Lieferfahrzeuge, das Einrichten von kleinen Verteilzentren? Könnte dies «eine kritische Hinterfragung transportintensiver Konsummuster» ersetzen? Da zeigt sich die irrsinnige Entwicklung exemplarisch. Erörtert wird, ob wohl eine «Koordination der konkurrierenden Paketdienstleister» möglich wäre, da diese «allesamt vergleichbare Leistungen anbieten». (Dies, nachdem zuvor Schritt für Schritt ein eigentlich vernünftiges Postsystem zerstört wurde!) «Neue, beliebte Dienstleistungen wie die Übernacht-Zustellung oder Eillieferung am selben Tag» verschärfen den «Zielkonflikt zwischen Servicequalität und Umweltschutz» weiter. Dass gerade im Güterverkehr und bei der Paketlogistik viele Konkurrenzangebote nur möglich sind, weil Mindestlöhne «deutlich und flächendeckend» unterlaufen werden, sei auch «hinsichtlich der sozialen Dimension der Nachhaltigkeit» untragbar. Aber «es fehlt an ordnungspolitischen Signalen, um dem Wachstum angemessen zu begegnen». Das expandierende E-Commerce zeige die Notwendigkeit regulativer Eingriffe ...
Tatsächlich zeigt sich diese Notwendigkeit in jedem angesprochenen Bereich. «Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung», wie es zum Schluss generell postuliert wird, erfordert mehr Aktivität. Der hierzu notwendige Freiraum bestünde: «Ausser im Bereich der Kunst wird kaum einer anderen Berufsgruppe eine solche fundamentale Freiheit zugesichert - was a priori von grossem Vertrauen in die Forschung zeugt.» Diesem gelte es gerecht zu werden, mahnt Jürgen Kopfmüller, der von 2005 bis 2010 den Vorsitz einer Vereinigung für ökologische Ökonomie innehatte. Eine verantwortliche Wissenschaft müsste immer «direkte und indirekte, beabsichtigte und unbeabsichtigte Wirkungen», aber ebenso «die möglichen Folgen des Nichtforschens einbeziehen». Der letzte Hinweis wurzelt wohl im Berufsalltag des an einem Institut für Technikfolgenabschätzung tätigen Autors.
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