Herausgegeben und eingeleitet von Richard Bräu und Hans G. Nutzinger
"Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie" · Band 23
518 Seiten
28,00 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-89518-457-4
(Oktober 2004)
20 Fotos, Register
Als die Autobiografie Lujo Brentanos kurz vor seinem Tod erschien, konnte er auf sechs Jahrzehnte aktiven wissenschaftlichen und politischen Lebens zurückblicken. Als Professor nacheinander an den Universität in Breslau, Straßburg, Wien, Leipzig und München tätig, entfaltete er vom Katheder und im wesentlich von ihm initiierten Verein für Sozialpolitik eine umfangreiche sozialpolitische und -reformerische Tätigkeit. Brentano war dabei einer der wenigen liberalen Sozialreformer, für die Sozialpolitik und Arbeitsrecht nicht einfach paternalistischer Schutz der Schwächeren bedeutete, sondern die gerade umgekehrt im Sinne eines konsequent praktizierten Liberalismus durch eine Gestaltung der Ordnungsbedingungen vor allem die abhängig Beschäftigten und deren Interessenvertretungen in den Stand setzen wollten, als gleichberechtigte und artikulationsfähige Verhandlungspartner gegenüber Wirtschaft und Staat aufzutreten.
In den lebendig geschriebenen Memoiren werden seine Auseinandersetzungen mit Bismarck wie auch mit Karl Marx, seine linksliberale Meinungsführerschaft im Verein für Sozialpolitik, die Gegnerschaft gegenüber der alten und neuen Feudalität wie gegenüber dem wirtschaftlichen Manchestertum, das Zusammengehen mit dem großen Althistoriker Theodor Mommsen für die Freiheit der Wissenschaft als auch bemerkenswerte Urteile über Wilhelm II. transparent. Das Ganze ist eine spannend zu lesende, überaus informative und quellenreiche Überschau seines gesamten Wirkens, in dem sich deutsche und Weltgeschichte, die Geburt und Entwicklung der deutschen Sozialpolitik und die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft zu einer erstaunlichen Synthese verbinden.
Diese Selbstdarstellung Brentanos ist zum Verständnis seiner Person und seines Werkes deswegen von so großer Bedeutung, weil sie nicht nur über ein langes und reiches Gelehrtenleben informiert, sondern darüber hinaus wichtige Einsichten in die komplizierte Interaktion zwischen den zeitgenössischen ökonomisch-theoretischen Diskussionen und den gleichzeitig stattfindenden Auseinandersetzungen in Wirtschaft, Politik und Recht ermöglicht: Auf dem Hintergrund der tagespolitischen Auseinandersetzungen werden die wissenschaftlichen Erörterungen und die dabei jeweils eingenommenen Standpunkte besser verständlich, und umgekehrt kann man auch die tagespolitischen Auseinandersetzungen jener Zeit besser und umfassender verstehen, wenn man sie nicht nur unter dem Gesichtspunkt erkennbarer wirtschaftlicher Interessen, sondern auch der theoretischen Denkmuster dieser Periode betrachtet.
"Generationen von Ökonomen haben ihr Bild von den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen und dem Beitrag, den die Professoren der Wirtschaftswissenschaften, die markanten Unternehmerpersönlichkeiten und Arbeitervertreter, die Beamten und die Presse in der Epoche leisten konnten, in der das Ansehen Deutschlands und der deutschen Wirtschaftswissenschaft auf einer besonderen Höhe stand, Lujo Brentanos Autobiographie entnommen. ... Unter den zahlreichen Autobiographien, die deutsche Gelehrte je geschrieben haben, ist diese eine der bedeutendsten. Die Herausgeber sprechen mit Recht von seiner persönlich einmaligen "Denk- und Anschauungsweise", von seiner erstaunlichen Beobachtungsgabe, aber auch von dem Preis, der für die Intensität der Darstellung zu zahlen war, nämlich der "notwendig subjektiven Perspektive des 'Selbstbeobachters'" (S. 12). Brentanos Herkunft und Lebensweg ließen ihn die Kontraste der Zeit erleben. Er war in der katholischen Tradition im deutschen Süden erzogen worden und verband sich vorwiegend mit protestantischen Preußen im "Verein für Socialpolitik", um seine sozialpolitischen Ziele zu erreichen. Er war aber ein entschiedener Liberaler im allgemeinpolitischen Sinn, in seinen wettbewerbspolitischen Vorstellungen und ganz besonders in der Zollpolitik, die ihn zur Scheckensfigur ostelbischer Agrarier machte.
Wer eine politische Autobiographie schreibt, neigt zur vaticinatio ex eventu - nach den Erinnerungen zu urteilen, hat Brentano richtig vorausgesehen. Da er aber viel schrieb, können wir meist feststellen, ob er zu Recht für sich in Anspruch nahm, richtig prophezeit zu haben. Die Herausgeber geben schöne Beispiele dafür, dass es tatsächlich der Fall war und er z.B. Anfang des Jahres 1914 eindringlich vor der Militarisierung Deutschlands und den gefährlichen indirekten Folgen eines Krieges für die ferne Zukunft warnte. Unerschöpflich scheint, was man von ihm über die Geschichte der Arbeiterfrage im 19. Jh. lernen kann; das Buch ist in dieser Beziehung eine ebenso schöne Einführung für den mit den wirtschaftshistorischen Zusammenhängen noch Unvertrauten wie eine Quelle der Vertiefung für Fortgeschrittene. Den ökonomischen Dogmenhistoriker beeindrucken die vielen geschilderten Begegnungen, allen voran vielleicht diejenige mit Carl Menger in Wien, der die Berufung Brentanos als eines Vertreters der deutschen historischen Schule ungeachtet seiner Liberalität als bittere Niederlage seiner österreichischen theoretischen Schule empfand. Viel lernt man über Schmoller, im Grunde ein Verbündeter, in wichtigen Einzelheiten doch oft ein Feind Brentanos. Die beiden verstanden es, zuletzt immer wieder zu edler gegenseitiger Anerkennung zu finden."
"... Die Mitglieder der Gruppe um Schmoller, Bücher und eben Brentano erkannten die tief greifenden sozialen Auswirkungen der Marktwirtschaft. Eigennutz als Antrieb menschlichen Handelns wird verknüpft mit ethischem Handeln, Anerkennung, Angst vor Strafe und gelebten Gewohnheiten in Recht und Moral. Vor diesem Hintergrund erhoben sie ihre Forderungen nach regulativen staatlichen Eingriffen, was ihnen, allerdings erst reichlich später, den Ruf einbrachte, geistige Väter 'sozialer Marktwirtschaft' der noch jungen Bundesrepublik gewesen zu sein. Zu ihren Lebzeiten als 'Kathedersozialisten' - nicht zuletzt wegen der Tätigkeit des durch sie ins Leben gerufenen 'Vereins für Socialpolitik' und dem Beachten der 'Arbeiterfrage' - bezeichnet, blieben ihnen in ihrem sozialen Engagement sozialistische Gedanken weitgehend fremd. Doch wie viel soziales Gefühl spricht allein aus jenem Denkansatz von Nationalökonomie, den Brentano als 'das dringende Bedürfnis' bezeichnet, 'Wirtschaftsleben auch vom Standpunkt der Hungernden wissenschaftlich zu durchforschen' ...
Bleibt die Frage, warum die Lebenserinnerungen des Lujo Brentano ... über den Rahmen wissenschaftsgeschichtlichen Interesses hinaus gegenwärtige Bedeutung erlangen könnte. ...
So gesehen reiht sich die Publikation der Lebenserinnerungen Brentanos ein in den Strom, der zusammenführt, was Gemeinsames in Denkansätzen hat: Eine Ablehnung des Neoliberalismus und der fast götzenhafte Anbetung jener Globalisierung, die durch die 'reinen' Kräfte des Marktes zur gigantisch anmutenden Umverteilung gesellschaftlich produzierten Reichtums und damit zu Armut für Viele führt. Und damit gewinnt die - häufig als wichtigstes Werk Brentanos bezeichnete - Lebensrückschau eine weit über wissenschaftshistorisches Interesse hinaus gehende aktuelle Dimension. ...
Die auch durchaus vergnügliche Lektüre des Bandes unterstreicht jene Einschätzung über Brentano, die Jürgen Kuczynski 1977 traf: 'Er war einer der erstaunlichsten Gesellschaftswissenschaftler der Bourgeoisie im letzten Drittel des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.' ..."