Aus dem Amerikanischen übersetzt und überarbeitet von Prof. Dr. Volker Grzimek (Berea College)
"Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft" · Band 22
378 Seiten
26,00 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1083-0
(Juli 2015)
Trotz des Finanzcrashs von 2008 präsentieren Ökonomen in tausenden von Hörsälen nach wie vor eine Karikatur der Wirtschaft, die die Wirklichkeit verzerrt und zu schlimmen Fehleinschätzungen führt. So wird ein Stereotyp verewigt, in welchem die freie Marktwirtschaft grundsätzlich effizient ist und Wohlstand für alle bewirkt, obwohl Nobelpreisträger Robert Shiller betont, dass die "Effizienzmarkthypothese einer der größten Irrtümer der Theoriegeschichte ist".
Ein Mangel der konventionellen VWL besteht darin, dass sie die Bedeutung von Intuition, Konditionierung und Unterbewusstsein in der Entscheidungsfindung absichtlich übersieht. So entsteht das fantastische Bild einer Welt, die mit allwissenden Übermenschen bevölkert ist, die im Wirtschaftsgeschehen ihre Emotionen völlig beherrschen, streng rational handeln und dabei selbst den gigantischen Manipulationsanstrengungen von Mega-Konzernen widerstehen.
Märkte sind weder allwissend noch allmächtig, sondern sind von Menschen geschaffen und deshalb fehlerhaft wie die Menschheit selbst. Die unbequeme Wahrheit ist, dass die freie Marktwirtschaft mit vielen "Achillesfersen" behaftet ist, die Krisen verursachen und das Wachstum der Lebensqualität erschweren.
Wir benötigen für das 21. Jahrhundert eine neue Wirtschaftslehre, die auf den Bedingungen und Institutionen des 21. Jahrhunderts basiert und nicht mit Bäcker- und Metzger-Beispielen aus dem 18. Jahrhundert die Wirklichkeit verschleiert.
Komlos listet auf, was der gegenwärtigen VWL alles fehlt und konstatiert dann zusammenfassend, dass sie angesichts dieser Defizite in der Krise einfach versagen musste. Ziel seines Buches sei es nun, die Schwächen der ökonomischen Ausbildung und die Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit durch "Ergänzung der herkömmlichen Theorie zu beseitigen" (36). Dies werde dann zugleich dazu beitragen "einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen" (21, 36). Inwieweit dies möglich ist, soll dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall aber stellt diese Monographie einen nützlichen Beitrag zur Qualifizierung der ökonomischen Lehre dar. Dies gilt selbst dann, wenn sich einige Kritikpunkte als absolut überzogen erweisen sollten und nicht wenige Forderungen, die in ihr erhoben werden, illusorisch sein dürften. Der Autor hält seine Anschauungen für "progressiv, demokratisch und humanitär". Sein Anliegen läuft auf eine "Erhöhung der Lebenszufriedenheit" (16) hinaus. Die ökonomische Lehre möchte er stärker auf "empirische Evidenz" gegründet sehen und weniger auf "Annahmen" (17). Aber ganz ohne Annahmen wird es nicht gehen und auch nicht ohne das "Prinzip Einfachheit", sonst erstickt jeder ökonomische Ansatz in der Fülle statistischer Daten. Ob es zweckmäßig ist, wie Komlos schreibt, die Ökonomie weniger als bisher auf "deduktiver Logik" aufzubauen und sie dafür mehr "induktiv" zu betreiben, erscheint fraglich. Was er vorschlägt, läuft auf eine Umstrukturierung der Lehrprogramme der Wirtschaftswissenschaften hinaus, wobei künftig mit empirischen Daten begonnen werden soll und nicht mit deduktiver Theorie und theoretischen Axiomen (378). Seine Forderung dagegen, die VWL wieder stärker in die Sozialwissenschaften zu integrieren, indem Erkenntnisse der Soziologie, Psychologie, Philosophie und Politikwissenschaften in sie einfließen (17f.), ist voll zu unterstützen. Aber hier gilt doch wohl auch das umgekehrte Vorgehen: Ohne Nutzung ökonomischer Erkenntnisse lässt sich heute auch keine der genannten Sozialwissenschaften mehr betreiben.
Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft hat zu einer "Krise in unserem Verständnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge" (24) geführt. Dies ist nicht ohne Konsequenzen geblieben: Einerseits ist dadurch die gesellschaftskritische Funktion der VWL verloren gegangen und diese ist apologetisch geworden. Andererseits zeigen sich immer größere Erklärungsdefizite, die zu einer Weiterentwicklung, ja vielleicht sogar zu einem Paradigmenwechsel, in der Theorie herausfordern. Ob sich diese Fragen jedoch durch einfache Entgegensetzungen erklären und durch den Austausch bestimmter Ziele lösen lassen, ist zu bezweifeln. Komlos fordert, statt "nach Wirtschaftswachstum zu streben", lieber "psychologisch, spirituell und moralisch zu wachsen" (25), statt marktmäßiger Effizienz nachzulaufen, lieber "Moral" zu wollen (52) und statt wirtschaftliche Ziele anzustreben, lieber mehr "Gerechtigkeit" anzupeilen (27). Geht nicht auch jeweils beides?
Die Praxis, zu Beginn einer Ausbildung bestimmte theoretische "Grundlagen" zu vermitteln, bevor die komplizierteren und anspruchsvolleren Lehrinhalte angeboten werden, hält der Autor für "völlig falsch" (29). Dabei lässt er sich von der Einschätzung leiten, dass durch einfache Modelle und vereinfachende Annahmen kein Abbild der Realität, sondern "eine Karikatur der Wirklichkeit" (29) entsteht, wodurch diese "bis zur Unkenntlichkeit verzerrt" werde. Es folgen einige Hinweise, wie "die richtige Balance zwischen Vereinfachung und Realismus" (31) gefunden werden kann; insgesamt aber tendiert der Autor dazu, vereinfachende Darstellungen als etwas "für Einfältige" (29) zu halten und "Modelle", die mathematisch als Gleichungen und geometrische Diagramme dargestellt werden, als realitätsfremd abzulehnen. Die dafür vorgeschlagenen evidenzbasierten Darstellungen sind zwar näher an der Realität dran, lassen dafür aber den theoretisch notwendigen Grad an Allgemeingültigkeit vermissen. Sie sind auch nicht "ideologiefreier" als die wegen ihrer kruden Annahmen kritisierten Modelle (55). Eher dürfte das Gegenteil zutreffen.
Die folgenden Kapitel sind mikroökonomischen Grundfragen gewidmet. Dabei folgt der Autor seinen eingangs formulierten Grundsätzen. Das heißt, er kritisiert die üblicherweise in den Lehrbüchern vorgenommenen Darstellungen und schlägt eine Reihe von Ergänzungen vor. Insgesamt werden die Inhalte dadurch realitätsnäher, aber auch komplexer und umfangreicher. Wie sich dies mit den Anforderungen an eine Bachelor-Ausbildung verträgt, ist strittig und tückisch zugleich. So führt z. B. eine Psychologisierung ökonomischer Lehrinhalte nicht unbedingt zu größerer Wissenschaftlichkeit, ebenso wie eine Untersetzung bestimmter Aussagen mit empirischen Wirtschaftsdaten keineswegs automatisch eine Qualifizierung der Theorie bewirkt. Dazu bedarf es auch entsprechender Methoden und Verfahren, die das Ganze aber nicht unerheblich verkomplizieren und die lehrmäßige Vermittlung schwieriger machen. Auch wenn es stimmt, dass die einfachen Rationalitätsannahmen der Konsumtheorie der Wirklichkeit nur bedingt entsprechen, so scheint es doch wenig praktikabel, sie durch "neuroökonomische Erkenntnisse" (78), die Annahme "beschränkter Rationalität" (80), ein "Satisficing" (82), die Berücksichtigung von "Vorurteilen und Intuitionen" (84), "heuristische Verfahren" (85), das "Framing" (86), diverse "Verknüpfungen" (89), verhaltenstheoretische und andere Annahmen (96) ersetzen zu wollen. M. E. muss die VWL nicht auf "das nutzenmaximierende Modell des rationalen Agenten" komplett "verzichten", wie Komlos fordert (104), es würde schon genügen, dessen Grenzen aufzuzeigen und einzuräumen, dass es daneben noch andere wichtige Determinanten des Konsumverhaltens gibt.
In diesem Kontext ist auch zu würdigen, dass sich der Verfasser gegen die Implikationen des "methodologischen Individualismus" (283) und gegen jedwede "superindividualistische Wirtschaftstheorie" (116) ausspricht. Es gibt in der Tat nur ganz wenige Entscheidungen, die ein Individuum wirklich autonom trifft. Die Regel ist vielmehr, dass das Verhalten von "sozialen Normen, Gewohnheiten, Bräuchen und solch irrationalen Motiven wie Statussucht, Snobismus und Herdentrieb" (113) beeinflusst wird. Komlos weiß das und setzt der neoklassisch-konventionellen Herangehensweise deshalb eine Lesart entgegen, worin "die Gesellschaft" konzeptionell dominiert (116ff.). Ähnlich verhält sich dies mit der "Kultur", die für ökonomische Entscheidungen ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Nicht uneingeschränkt folgen kann man ihm jedoch in seiner Kritik an dem "Wertneutralitätspostulat" der VWL (129). Komlos hält die Unterscheidung zwischen (vermeintlich wertfreier) ökonomischer Analyse und "normativer Ökonomie", welche Werturteile enthält, für "künstlich" (129), da es unmöglich ist, eine "wirtschaftswissenschaftliche Analyse ohne Annahmen" zu betreiben. Das ist zutreffend. Insofern unterliegt schon die Auswahl der zu behandelnden Fragen bestimmten Normen und Werturteilen. Es bleibt aber doch ein Unterschied zwischen der Analyse wirtschaftlicher Tatbestände mit Hilfe z. B. quantitativer Methoden und der Formulierung bestimmter Ziele und Entwicklungsrichtungen der Wirtschaft, die natürlich normativ gesetzt werden. Die hieraus resultierende Unterscheidung ist vielleicht relativ, sie lässt sich aber nicht leugnen.
Ein schönes Beispiel dafür, wie sich die vereinfachende Sichtweise der traditionellen Lehrbücher zwar kritisieren, deren Qualifizierung die Darstellung aber sehr viel komplizierter werden lässt, bildet das Kapitel zur "Zeitinkonsistenz" (139ff.). Standardlehrbücher gehen davon aus, dass die Menschen die Zukunft (und den Zukunftsnutzen) exponentiell diskontieren und mithin die Gegenwart (und den Gegenwartsnutzen) entsprechend höher gewichten. Dies lässt sich mathematisch einfach abbilden und grafisch leicht darstellen. Experimente haben nun aber gezeigt, dass dies nicht uneingeschränkt zutrifft. Tatsächlich verwenden die meisten Menschen eine "hyperbolische Diskontierung", wobei der Diskontsatz vom Zeithorizont abhängt. Die theoretische Erklärung, empirische Beweisführung, mathematische Formulierung und grafische Darstellung des Sachverhalts wird dadurch wesentlich anspruchsvoller und setzt weit mehr an Vorkenntnissen aus anderen Disziplinen voraus. Wahrscheinlich sprengt sie sogar die Möglichkeiten, die eine Bachelor-Ausbildung bietet. Komlos setzt dies in Beziehung zu wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen und gelangt zu dem Schluss, dass die Menschen dazu neigen, die Gegenwart in ihren Bewertungen "zu stark zu gewichten" und wenig wahrscheinliche zukünftige Ereignisse "übermäßig zu diskontieren" (141). Die Folgen sind ein überzogener Optimismus, eine hohe Verschuldungsquote auf individueller und staatlicher Ebene, eine geringe Sparquote und eine Vernachlässigung von Zukunftsrisiken, was sich wiederum in einer fehlenden Nachhaltigkeit der Produktion äußert.
Das letzte Drittel des Buches ist weniger der Kritik vorherrschender Lehrmeinungen und stärker dem zukünftig anzustrebenden Paradigma gewidmet. Dabei wird häufig die Theorie verlassen und die reale Wirtschaft in den Blick genommen. Im Mittelpunkt stehen die Regulierung der Märkte, der Einfluss des Staates, die Integration neuer theoretischer Erkenntnisse und Disziplinen wie der "Geographischen Ökonomie" (228), die Berücksichtigung externer Effekte und veränderter Marktstrukturen u. a. m. Bemerkenswert ist, dass als Folie für die Kritik fast immer die US-Wirtschaft herhalten muss, während als Vorbild für die anzustrebenden Veränderungen fast immer Deutschland zitiert wird. Damit erübrigen sich für den deutschen Leser einige Passagen, es sei denn, man begreift bestimmte Zustände wie die Existenz von Mindestlöhnen, von Preisobergrenzen, von Kartellrechtsbestimmungen, von Mitbestimmung und Gewerkschaftseinfluss als bewahrenswerte Errungenschaften des Rheinischen Kapitalismus gegenüber dem US-amerikanischen Modell. Dies passt zur Grundintention des Autors, Reformen à la Keynes zu befördern, "die Grundstruktur des demokratischen Kapitalismus" aber beizubehalten (275). Was er im Einzelnen dann zur Verbesserung des Funktionierens der Wirtschaft vorschlägt, unterscheidet sich folglich kaum von dem, was keynesianisch orientierte Ökonomen und erklärte Gegner des Establishments wie Dean Baker, Brooksley Born, Edward Gramlich, Paul Krugman, Hyman Minsky, Raghuram Rajan, Nouriel Roubini, Peter Schiff, Robert Shiller, Joseph Stiglitz, Nassim Taleb, John Taylor und andere seit Jahren predigen: Mehr Regulierung, mehr Einfluss des Staates, mehr Kontrolle großer Unternehmen, internationaler Banken, der Finanzmärkte und der Schattenwirtschaft, mehr Aufklärung und eine wirksamere Politik, welche nicht nur die Interessen des großen Kapitals berücksichtigt, sondern die der gesamten Nation.
Das Buch endet mit dem nochmaligen Verweis auf die Finanzkrise von 2008, welche der Autor als "eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit" (364) wertet, das für die Weltwirtschaft furchtbare Folgen nach sich gezogen hat. Die Krise war jedoch kein "Blitz aus heiterem Himmel", sondern absolut vorhersehbar. Die Hinweise darauf und diesbezügliche Warnungen wurden von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft jedoch nicht verstanden, da sie "einfach nicht bereit waren, zuzuhören und unvoreingenommen zu sein" (364). Sie konnten dies nicht, da ihr Verständnis von der Wirtschaft auf einem falschen und überholten Paradigma beruht. Es ist an der Zeit, dies zu verändern, also einen Paradigmenwechsel einzuleiten. Ansonsten droht die Gefahr, dass sich der Crash von 2008 schlimmer als zuvor wiederholt."
"... Der Autor hat ein volkswirtschaftliches Standard-Lehrbuch, etwa Samuelson-Nordhaus, Economics, 2009, vor Augen und fragt sich, ob der - vorwiegend studentische - Leser des genannten Buches einen zutreffenden Eindruck vom wirtschaftlichen Geschehen erhält. Komlos glaubt das nicht. Sein Punkt ist, dass dieses Lehrbuch, wie auch nahezu alle anderen Lehrbücher, den idealen Markt als den Regelfall, nicht als Ausnahmefall präsentieren. Daher verlasse ein mit einem solchen Lehrbuch ausgebildeter Student die Hochschule mit einer nicht nur falschen, sondern ideologisch deformierten Weitsicht über die Funktionsweise von Märkten. Das ist eine starke Behauptung. Die einzelnen Kapitel des Buches bringen jedoch anhand zahlloser Einzelbeispiele Belege für die These und erhärten die Kritik des Verfassers.
So wird das Konsumverhalten in der realen Welt nicht das eines rationalen Agenten sein, der mit gegebenen Bedürfnissen, beschränkten Ressourcen und vollkommener Information seinen Nutzen maximiert. Stattdessen werden seine Bedürfnisse durch aggressive, alle psychologischen Erkenntnisse nutzende Werbung manipuliert, von Kindesbeinen an, über die Jugendlichen, die durch angepasstes Konsumverhalten Anerkennung in der Gruppe suchen bis hin zum stundenlangen, werbungsdurchsetzten Eernsehkonsum der Erwachsenen. Die Ressourcenbeschränkungen werden aufgehoben durch verlockende Kreditangebote, die heutigen Konsum erschwinglich machen, die Kosten dafür in eine unbekannte Zukunft verschieben und überschuldete Konsumenten am gesellschaftlichen Wegesrand zurücklassen. Die Beschaffung der erforderlichen Informationen über Preise und Qualitäten der zu kaufenden Waren und Dienstleistungen kostet Zeit und Mühe, die nicht jeder aufbringen kann. Welcher Versicherungsnehmer versteht schon genauso gut wie das Versicherungsunternehmen, was da unterschrieben wird? Und schließlich lebt der Agent auch in einem gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld, das seinen Konsum beeinflusst. So trägt der Zerfall gesellschaftlicher und familiärer Bindungen dazu bei, dass dem Konsum eine identitätsstiftende Funktion zuwächst, wie auch der Luxuskonsum der hedonistisch gewordenen Eliten fatale Konsumsignale sendet.
Die Produktion in der realen Welt folgt nicht (mehr) der Vorstellung von Adam Smith, wonach Bäcker und Metzger in Verfolgung ihres Eigeninteresses die gesellschaftlich optimale Versorgung mit Brot und Wurst gewährleisten. Das Güterangebot kommt weitgehend von Firmen, die nicht mehr von den Inhabern geführt werden sondern von bestellten Managern, die keinerlei persönlichen Kontakt mehr zu Kunden und Lieferanten haben. Die Erwartung, dass die Kontrolle der Eigentümer und der Wettbewerb um Kunden und Lieferanten effiziente Marktergebnisse zustande bringt, trügt, wie zuletzt die Finanzkrise überdeutlich gezeigt hat. Prinzipal-Agent-Probleme, Moral-Hazard-Probleme, opportunistisches Managerverhalten wie etwa im Abgas-Skandal der Automobilindustrie oder im fahrlässigen Transportgebahren der Tankschifffahrt, die Pfadabhängigkeit ökonomischer Prozesse, die Marktmacht, all das steht der behaupteten Markteffizienz entgegen. So kommt Komlos zu dem Schluss, dass unter den heutigen Produktionsbedingungen die individuelle Freiheit mehr durch die großen Unternehmen als durch den Staat bedroht ist. ...
So hält er zwar den Beitrag von Keynes zur Stabilisierung des Kapitalismus zu Recht für genial, ebenso die keynesianische Theorie, verkennt aber nicht das in der Praxis aus der asymmetrischen Anwendung seiner Theorie entstandene Problem der wachsenden Staatsverschuldung. Auch sieht er im Sparen, anders als viele Keynesianer, nicht primär Austeritätspolitik, sondern notwendige Zukunftsvorsorge, die jedoch von den Konzernen diskreditiert werde, weil Kaufzurückhaltung nicht in ihrem Interesse liege.
Umso energischer verteidigt er aber den leistungsfähigen Staat, sowie die zu dessen Finanzierung erforderliche Besteuerung. Grundlagenforschung, Infrastruktur, die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Bereitstellung öffentlicher Güter und die soziale Sicherung sind hoheitliche Aufgaben, die der Gesellschaft insgesamt, insbesondere aber den schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft nützen. Deshalb sei Reagans Diktum "Die Regierung hat nicht die Lösung für unsere Probleme, die Regierung ist das Problem" zielgerichtet irreführend. In seinen Erörterungen zur Finanzkrise verweist Komlos zu Recht auf Minskys "Stabilizing an Unstable Economy" (1986), der schreibt, dass unsere Wirtschaft nicht instabil ist aufgrund von Öl, Kriegen oder monetären Überraschungen, sondern "aufgrund ihrer eigenen Natur" und deshalb scharfer Regulierung bedarf. Diese Instabilitätsthese bestätigte sich in der Krise 2008, die exakt dem Minskyschen Drehbuch folgte, eindrucksvoll. Die These, niemand habe die Krise kommen sehen, sei daher ein Märchen.
Komlos resümiert: "Daher ist Marktversagen die Norm. Das was nach Auffassung der Ökonomen die Ausnahme ist, ist eigentlich die Regel. Das Standardmodell, das wir für die Analyse der Wirtschaftspolitik verwenden sollten, ist eigentlich das Modell oligopolistischer Märkte mit unvollständiger Information, in dem Konsumenten mit Hilfe von Faustregeln und Satisfizierung Entscheidungen treffen, die von anderen Konsumenten abhängen und so auf endogenen Nutzenfunktionen basieren, in denen Statussucht eine erhebliche Rolle spielt und in denen Begierden künstlich sind und durch die Werbeindustrie manipuliert werden. Diese Sorte Markt ist nicht effizient, überhaupt nicht demokratisch und sehr weit von dem Modell entfernt, das Studenten in den Einführungsvorlesungen üblicherweise vermittelt bekommen." Was ist davon zu halten?
Komlos mahnt zu Recht eine größere Realitätsnähe von einführenden Lehrbüchern in der Volkswirtschaftslehre an. Bei vielen Autoren mag auch die Begeisterung über das, was Märkte idealerweise leisten, die Fälle der Marktunvollkommenheiten und des Marktversagens in den Hintergrund treten lassen. Bei aller Marktskepsis sollte man aber nicht übersehen, dass staatliches Regulierungsversagen nicht weniger selten ist als Marktversagen. Darüber hinaus fragt sich der Leser hie und da, ob sich die Schilderung der Beziehungen von Markt, Staat und Wissenschaft nicht doch sehr spezifisch auf US-amerikanische Verhältnisse bezieht. Zum ersten ist die Marktskepsis in der deutschen Politik weit stärker verbreitet als in den USA. Zum zweiten enthalten deutsche Lehrbücher traditionell umfangreiche Ausführungen zum öffentlichen Sektor ("Finanzwissenschaft"), die im Allgemeinen sehr positive Bewertungen staatlicher Aktivitäten beinhalten. Zum dritten bezeichnet Komlos an etlichen Stellen deutsche Regelungen als vorbildlich für die USA.
Schließlich enthält das Buch eher eine umfassend begründete Forderung nach einer Einführung in eine realitätsbasierte Volkswirtschaftslehre als selbst eine solche Einführung zu bieten. Wenn das Modell oligopolistischer Märkte das Standardmodell für die Analyse der Wirtschaftspolitik sein soll, müsste das diese These vertretende Lehrbuch nach diesem Muster aufgebaut und entwickelt sein. Das ist das vorliegende Buch nicht.
Dessen ungeachtet kann es jedem am Fach Interessierten, jedem Studenten der Volkswirtschaftslehre und, ja, jedem Hochschullehrer des Faches nur wärmstens zur Lektüre empfohlen werden. Es ist lebendig geschrieben, am Menschen, nicht am Modell orientiert und offenbart eine zutiefst humanistische Perspektive.
"Ein menschlicher Kapitalismus?
Oder besteht Bedarf nach einem Lehrbuch? Hier eines, das vielleicht passt: Band 22 der "Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft". Von einem emeritierten Ökonomieprofessor mit internationalem Renommee verständlich verfasst, als Einführung für Studierende gedacht. Mich lockte vor allem das "Denken nach dem Crash" im Titel. Auf den ersten Seiten schon überkam mich das Gefühl, der US-Autor mit ungarischen Wurzeln sei in seiner Zunft wohl ein eher einsamer Mann. Ist da heutzutage noch Platz für einen, der wie John Komlos den Menschen und die Menschenrechte ins Zentrum der Wirtschaft rücken will? Dem es ein Hauptproblem zu sein scheint, "dass die meisten der Unzufriedenen noch nicht verstehen, wie die extremistischen Befürworter freier Märkte uns in die Irre geführt haben", und der darum wieder Alternatives ins Gespräch zu bringen versucht? "Small is Beautiful" von E. F. Schumacher zum Beispiel. Wachstum könne schliesslich kein Ziel sein, führe auch nicht zu Lebenszufriedenheit oder Gerechtigkeit. Freihandel bedeutet für ihn nicht Fortschritt; Arbeitende wie Konsumierende brauchen Schutz; Staaten müssen Regeln setzen.
Keynes wird von Komlos als "Vater der modernen Makroökonomie" gewürdigt. Er habe in den 1930er-Jahren den Weg aus der Krise gewiesen und "die intellektuellen Grundlagen des Kapitalismus vor den konkurrierenden Ideologien des Faschismus und Marxismus" gerettet. Doch dessen Rezepte liessen sich natürlich nicht einfach ins Heute übertragen. Am eindrücklichsten fand ich die Passagen, in denen der Autor die Leere der aktuellen akademischen Lehre in der gegenwärtigen Krisenlage aufzeigt. Von der dominierenden Denkschule komme diesbezüglich "absolut nichts Relevantes", in Vorlesungen würden weiterhin die 2008 gescheiterten Theorien doziert, wie wenn es keine "Grosse Rezession" mit all ihren Verwerfungen gäbe.
Gegen diese Ignoranz schreibt der Autor an. Er möchte "einen bescheidenen Beitrag" zu einer offeneren Debatte und damit "für ein neues System des Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" leisten. Steht es mir als staunendem Laien an, diesen im letzten Satz seines Buches wiederholten Wunsch eines ungewöhnlichen Experten als sympathische Illusion zu bezeichnen?
"Auch erstklassige heterodoxe Anti-Lehrbücher (z.B. Hill und Myatt 2010) kommen fast immer etwas spröde daher und bieten zwar Erkenntnisse, verbreiten aber nicht unbedingt Leselust. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Buch von Komlos von anderen heterodoxen Einführungen. Seine "realitätsbasierte Volkswirtschaftslehre", um die es nach dem deutschen Untertitel geht, erfrischt durch eine breite Literaturrezeption und den Einbezug vielfältiger historischer, psychologischer und sozioökonomischer Aspekte. Dem US-amerikanischen Wirtschaftshistoriker und Ökonom, der bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 an der LMU in München lehrte, ist eine farbenprächtige Einführung gelungen, deren sprachlich gelungene Übersetzung (von wenigen Ausnahmen abgesehen) sehr zu begrüßen ist. Der englische Titel trifft den Inhalt des Buches etwas besser, wenngleich eine seiner Stärken tatsächlich in der vielfältigen Berücksichtigung der Ursachen und eigentlich nötigen Konsequenzen für Theorie und Praxis aus der Finanzkrise liegt.
Insgesamt stellt das Buch einen angenehm zu lesenden, komplementären Kontrapunkt zu üblichen Lehrbüchern dar. Es ist, im Begriff des Autors ausgedrückt, beste Alltagsökonomie, die sich den Realitäten - auch denen der Finanzkrise und danach - stellt. Der Autor bringt viele Beispiele, er argumentiert undogmatisch und nicht strikt von einer festgefahrenen Schulrichtung aus. Er geht nicht in die tieferen theoretischen Niederungen methodologischer oder modelltheoretischer Ansätze ein, bietet dafür aber ein reichhaltiges Literaturarsenal zur Vertiefung in den Fußnoten. Man kann John Komlos für dieses Geschenk an heutige Studierende nur danken und es nicht nur ihnen sehr empfehlen.