"Theorie der Unternehmung" · Band 35
488 Seiten
39,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-89518-577-9
(September 2006)
Dieses Buch handelt von einem Unternehmen im doppelten Sinne: Es stellt die Ergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes "OSSENA - Ernährungsqualität als Lebensqualität" vor, das den Fokus darauf richtet, die Möglichkeiten und Perspektiven einer nachhaltigen Ernährungskultur am Beispiel der Region Ostfriesland auszuloten. Ernährungskultur umfasst dabei nicht nur die konsumentenseitige Dimension der Auswahl und des Verzehrs von Lebensmitteln. Zur Ernährungskultur gehören ebenso die Weisen der landwirtschaftlichen oder industriellen Erzeugung von Nahrung, deren Distribution und Vermarktung sowie die Techniken der Zubereitung von Speisen und die im Ernährungsfeld relevanten materiellen Kulturgüter. Als zentrale Kriterien einer nachhaltigen Ernährungskultur sollen dabei insbesondere die Aspekte "Regionalität" und "Qualität" in ihrer kulturellen Dimension ins Auge gefasst werden. In einer disziplinübergreifenden Kooperation, die Kompetenzen aus den Bereichen der Agrarwissenschaften, Kulturwissenschaften und Sozialwissenschaften, der Pädagogik und Psychologie sowie einer kulturtheoretisch orientierten ökonomischen Forschung bündelt, werden Ernährungsversorgung und Ernährungswirtschaft unter kulturwissenschaftlich-ökonomischer Perspektive untersucht.
Das als intensive Aktionsforschung angelegte Projekt verfolgt in enger Verzahnung mit der theoretischen und empirischen Erschließung des Feldes Ernährungskultur auf der Umsetzungsseite das Ziel, mittels vielfältiger sowohl individuenbezogener als auch angebotsstruktureller Interventionen Impulse für die Entwicklung einer nachhaltigen Ernährungskultur in der Region Ostfriesland zu geben. Mit Aktionen im öffentlichen Raum, in Handel und Gastronomie, mit handlungsorientierten Unterrichtseinheiten in Schulen und mit speziellen Angeboten für die landwirtschaftlichen Erzeuger soll ein ernährungskultureller Wandel angestoßen werden. Regionale Netzwerke, welche die regionale Wertschöpfungskette stärken und die heterogenen Akteure zusammenführen, konnten inzwischen erfolgreich institutionalisiert werden. Als dauerhaftes Ergebnis wird eine Orientierung des regionalen Profils auf nachhaltige Ernährungsmuster angestrebt, womit Ostfriesland im Wettbewerb der Regionen einen zukunftsfähigen Platz erhalten soll.
Teil I: Kulturwissenschaftliche Perspektiven für den Umgang mit Ernährungsversorgung und Ernährungswirtschaft
Thorsten RaabeTeil II: Das akteursorientierte Programm regional nachhaltiger Ernährungskultur
Reinhard PfriemTeil III: Perspektiven eines nachhaltigen Wandels von Ernährungskultur(en)
Achim Spiller & Anke ZühlsdorfSchluss
Reinhard Pfriem, Thorsten Raabe & Achim SpillerIm ersten Teil des Buches werden in sechs Kapiteln der theoretische Ansatz des Projekts und die methodologische und methodische Ausrichtung diskutiert. Aufbauend auf einer an der Universität Oldenburg interdisziplinär entwickelten kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung wird in kritischer Abgrenzung von natur- und verhaltenswissenschaftlichen Paradigmen in Ernährungsforschung und -politik für ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Ernährungszusammenhängen plädiert. Dabei wird von Kultur als Praxis ausgegangen und das prozessuale Hervorbringen und Herstellen von Kultur ("doing culture") durch sämtliche Akteure hervorgehoben. Ernährungskultur wird als alimentäre Praxis gefasst, was "sämtliche ernährungsbezogenen Vorgänge der Produktion, Distribution, des Handels und Konsums - kurz: der Anbieter- und Nachfragerkulturen - als Hervorbringen von Ernährungskultur" (S. 73) meint. Neben der handlungstheoretisch-kulturalistischen Konzeptualisierung von Ernährungsprozessen liegt eine besondere Stärke des OSSENA-Projekts in der Einsicht, dass Angebot und Nachfrage rekursiv verkoppelt sind und sich co-evolutorisch entwickeln. Der Markt wird als kulturelles Gefüge gesehen, Unternehmensstrategien als kulturelle Angebote an die Gesellschaft und die Ernährungswirtschaft als ebenso Kultur schaffend und prägend wie die Konsumenten. Forschungsstrategisch hat diese Einsicht zur Folge, dass sowohl Angebot als auch Konsum untersucht werden. Doch OSSENA ist kein Forschungsprojekt im klassischen Sinne: Wesentliche Intention ist, ernährungskulturelle Prozesse nicht nur zu interpretieren, sondern aktiv zur Veränderung der Ernährungskultur in Richtung Nachhaltigkeit beizutragen. Orientiert an Methoden der Aktionsforschung lautet die OSSENA-Strategie "Interpretieren, Intervenieren, Institutionalisieren" (S. 139 ff.). Erforschung und Interpretation ernährungskultureller Praktiken gehen Hand in Hand mit verschiedensten, auf Nachhaltigkeit zielenden Interventionen, um einen ernährungskulturellen Wandel anzustoßen, der letztlich - nach Beendigung der Forschungsarbeit - durch Institutionalisierungen dauerhaft in der Region wirksam werden soll. Die Bilanz dieser vorläufigen Bemühungen ist geteilt: Vielen erfolgreichen Institutionalisierungen (z.B. die Gründung eines Gastronomennetzwerkes "OSTFRIESLAND KULINARISCH") stehen auch einige Misserfolge gegenüber.
Den Mittelteil des Buches bilden neun Kapitel, die der Diskussion von bisherigen Ergebnissen aus den einzelnen Projektmodulen (Landwirtschaft, Handel, Gastronomie, Netzwerke und öffentliche Aktionen, Schule, Haushalte) gewidmet sind. Im Hinblick auf die Lerneffekte des partizipatorischen Forschungsansatzes von OSSENA wird deutlich, dass sowohl bei Anbietern als auch Konsumenten vielfältige Lernprozesse angestoßen wurden, die in ihrer Gesamtheit zwar keinen radikalen Kulturwandel bewirkten (diese Erwartung wäre auch überzogen), aber doch viele Impulse zur Institutionalisierung von Elementeneiner regional-nachhaltigen Ernährungskultur setzten.
Im dritten Teil des Buches werden in drei Kapiteln die Möglichkeiten und Grenzen eines nachhaltigen Wandels von Ernährungskulturen diskutiert. Dabei wird insbesondere deutlich, wie stark die Ernährungskultur auch von der Angebotsseite geprägt wird. Die Analyse der Branchenkultur in der norddeutschen Ernährungswirtschaft bringt eine hohe Orientierung an der Produktion von standardisierten Durchschnittsqualitäten für den anonymen Markt und die große Bedeutung von Kostenführerstrategien zutage, was schwierige Bedingungen für die Regionalvermarktung darstellt. Doch Unternehmen sind auch Kultur schaffende Akteure. Trotz branchenkultureller Restriktionen konnten - durch das OSSENA-Projekt mitbewirkt - innovative Regionalvermarktungsprojekte als "Kontextpartisanen" (S. 421) entwickelt werden, die durch ihre Kundennähe wichtige Innovationsimpulse setzen.
Die Ergebnisse des Projekts zeigen eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten zur Förderung einer nachhaltigen Ernährungskultur, und zwar bei allen Akteursgruppen des Ernährungssystems. Die coevolutorische Betrachtung von Angebots- und Nachfragekulturen macht Schnittstellenoptimierungen möglich und nachhaltigkeitsrelevante Verknüpfungen deutlich. Der Band zeigt sehr schön, welche Lerngeschichten und Erkenntnisgewinne interdisziplinäre Erweiterungen und Perspektivenwechsel ermöglichen können. Im vorliegenden Buch kommen insbesondere die Wirtschaftswissenschaften durch die Verfolgung eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes zu innovativen Forschungsfragen und -ergebnissen.
Insgesamt aber ein sehr spannendes Buch, das sowohl einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Fundierung einer Kulturforschung des Essens leistet, als auch mit interessanten empirischen Befunden aufwarten kann, welche die Forschungslandschaft nachhaltig bereichern werden.
Ernährungskultur als alimentäre Praxis. Oder: Die Grenzen der bloßen Beschreibung
Nachhaltige Netzwerke in der Gastronomie - Zur Entwicklung von OSTFRIESLAND KULINARISCH
Schule als ernährungskultureller Lernort
Kultur als soziale Praxis - Grenzen und Möglichkeiten empirischer Forschung
Regionale Ernährungskultur - Eine Bestandsaufnahme bei ostfriesischen Familien
Kundenzufriedenheit in der Direktvermarktung
Zur Stärkung subjektbezogener Theorien - Kulturelle Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten
Ernährungskultur in die Breite tragen: Ostfrieslandmahle, Zukunftsmahle und der Kulinarische Sommer
Kulturwissenschaftliche Möglichkeiten der Beschreibung und Analyse von Ernährungskonsum
Der Fokus regionale Nachhaltigkeit
Ist Geiz geil oder lebt die Mitte (wieder) auf ?
Von den Vorteilen und Risiken transdisziplinärer Forschung
Die Grenzen naturwissenschaftlich aufklärender Aktivitäten im Ernährungssektor
Die OSSENA-Strategie konkret: Interpretieren, Intervenieren, Institutionalisieren
Ernährungskulturelle Fortschritte bei Anbietern: Der Handel als kulturpolitischer Akteur
Mehr als Jägerschnitzel? Die bürgerliche Gastronomie zwischen Preisdruck und Qualitätsprofilierung
Regionalvermarktung in einer globalisierten Welt – soziokulturelle Grenzen und ökonomische Chancen
Der Lebensmittelhandel setzt Zeichen
Landwirte: Rohstofflieferanten oder Trendsetter?