210 Seiten
19.80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1549-1
(22. Juni 2023)
Viele Jahre spielte die Inflation in den entwickelten Industrieländern keine Rolle mehr. Doch die Inflation ist zurück. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, welch vernichtende Kraft Inflationen entwickeln können. Die deutsche Hyperinflation hat in den 1920er Jahren zu gewaltigen Vermögensvernichtungen und Umverteilungen geführt und so zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen. Die inflationären Wellen in den 1970er Jahren wiederum haben Krisen hervorgerufen, die letztlich die neoliberale Revolution mit ihren Deregulierungen und Privatisierungen eingeleitet haben. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, welche wirtschaftspolitischen Fehler seinerzeit begangen wurden und wie sie heute verhindert werden können. Dieser Problematik widmet sich das vorliegende Buch.
Um die Ursachen für inflationäre Prozesse theoretisch und empirisch herauszuarbeiten, untersuchen Heine und Herr fünf Fallbeispiele, die exemplarisch für gravierende Fehlentwicklungen stehen: die deutsche Hyperinflation 1923 und die inflationären Wellen in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, in den USA, im Vereinigten Königreich und in Italien. Im Ergebnis ihrer Analyse liefern die Autoren wirtschaftspolitische Empfehlungen für den Kampf gegen die Inflation heute.
... Im 8. Kapitel ziehen die beiden Autoren allgemeine Schlussfolgerungen und geben Empfehlungen für die aktuelle Krisenpolitik. Der Lohnpolitik komme die schwierige Aufgabe zu, ein Aufschaukeln von Löhnen und Preisen zu verhindern. Nach ihrer Auffassung führt deshalb kein Weg daran vorbei, die Nominallohnentwicklung auch im Falle eines Preisschocks an der mittelfristigen Produktivitätsentwickiung zuzüglich der Zielinflationsrate der jeweiligen Zentralbank auszurichten - eine alles andere als einfach zu realisierende Maßnahme, die durch sozialpolitische Maßnahmen flankiert werden müsse. Die Zentralbank sei aufgerufen, eine exogen verursachte Schockwelle wie im Falle des Energiepreisanstiegs infolge des Ukrainekriegs zu tolerieren. Solange die Lohnpolitik keine Lohn-Preis-Spirale auslöse, solle die Zentralbank auf eine restriktive Zinspolitik verzichten. Die Fiskalpolitik schließlich müsse die konjunkturelle Nachfrageschwäche aufgrund der real sinkenden Konsumnachfrage und einer rückläufigen Investitionsnachfrage durch eine expansive Ausgabenpolitik auffangen.
Im 9. und letzten Kapitel liefern Heine und Herr im Rahmen eines theoretischen Kapitels die aus ihrer Sicht einschlägigen Erklärungen für Preisniveauveränderungen und inflationäre Prozesse. Sie weisen quantitätstheoretische Überlegungen zurück, nach denen die Preisniveaubewegungen einfach von der Entwicklung der Geldmenge ableitbar wären. In der Tradition von John Maynard Keynes und Michal Kalecki begründen sie ausführlich, warum inflationäre Prozesse, die mit sehr hohen Inflationsraten einhergehen und in Hyperinflationen zu münden drohen, im Kern immer durch kumulative Bewegungen von Löhnen und Preisen angetrieben werden - und zeigen, dass hierbei eben auch Abwertungen eine zentrale Rolle spielen.
Mit ihrem neuen Buch schließen Michael Heine und Hansjörg Herr zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren eine wichtige Forschungslücke. Hatten sie im vergangenen Jahr eine fundierte, ausführliche und detaillierte Darstellung der Europäischen Zentralbank und ihrer Geldpolitik veröffentlicht, so legen sie mit ihrem jüngsten Buch angesichts der aktuellen Debatten um das Inflationsgeschehen infolge des Ukrainekrieges ein dringend erforderliches Buch zur Einordnung der gegenwärtigen Krise vor. Es ist durch viele Daten und historische Zeitreihen empirisch gut belegt, die Argumentation ist nicht zuletzt dadurch schlüssig und nachvollziehbar. An der ernüchternden Erkenntnis, dass Lohn-Preis Spiralen zu vermeiden sind, auch wenn diese etwa durch drastische Erhöhungen von Rohstoffpreisen ausgelöst werden, kommt man nach Lektüre des Buchs der beiden Berliner Ökonomen allerdings nicht vorbei. Damit aber wird ein grundsätzliches Dilemma in kapitalistischen, geldvermittelten Ökonomien deutlich, dem sich progressive Parteien und auch Gewerkschaften stellen müssen: Die Verteilungswirkung der Lohnpolitik, so wichtig etwa eine hohe Tarifbindung und angemessene Lohnerhöhungen auch sind, hat an der Preissetzungsmacht der Unternehmen ihre Grenzen. Zwar ist eine relativ egalitäre Verteilung von Einkommen und Vermögen selbst unter kapitalistischen Verhältnissen grundsätzlich erstrebenswert und auch durchsetzbar, aber wichtiger als die Lohn- ist in diesem Zusammenhang die Steuerpolitik und die Bereitstellung staatlicher Leistungen. Eine Erkenntnis, die mit den bahnbrechenden Arbeiten von Thomas Piketty zum zentralen Stellenwert der Steuerpolitik für Verteilungsfragen im Einklang steht und durch diese auch begründet wird.
"... Ihre Analyse verfolgt das Ziel, wirtschaftspolitische Fehler vermeiden zu helfen und optimale makroökonomische Stabilisierungsstrategien zu entwickeln. Sie mündet folglich in Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die Lohn-, Geld-, Finanz- und Währungspolitik.
Das Buch ist klar gegliedert sowie verständlich und ökonomisch schlüssig geschrieben. Übersichtliche Tabellen und Grafiken erleichtern dem Leser das Erfassen der empirischen Daten sowie der teilweise komplexen theoretischen Erklärungen.
Der Schwerpunkt der Argumentation liegt eindeutig auf der Herausarbeitung einer Parallele zwischen den Preisniveauschocks der 1970er Jahre und der aktuellen Entwicklung. Warum trotzdem zunächst die Hyperinflation von 1922/23 behandelt wird, erklärt sich aus dem 100. Jubiläum dieses Ereignisses. Zugleich bietet der Exkurs in die Geschichte den Autoren die Möglichkeit, ihre These, wonach Inflationen nicht nur mit Vermögensumschichtungen verbunden sind und Rezessionen nach sich ziehen, sondern auch "die Ökonomien und Gesellschaften grundlegend verändern" (18), überzeugend zu exemplifizieren. So bedeutete die Große Inflation während und nach dem Ersten Weltkrieg das Ende der Ära des Goldstandards. Zugleich leitete sie eine neuartige Verbindung von Wirtschaft und Staat ein und markierte mit der Herstellung der formalen Unabhängigkeit der Reichsbank und der Neuregelung der Refinanzierung der Banken den Übergang zu neuen institutioneilen Arrangements. Zudem ebnete sie mit ihren fundamentalen Verteilungswirkungen, aber auch ideell und moralisch, in bestimmtem Maße den Weg in den deutschen Faschismus. Die Hyperinflation von 1922/23 war das Resultat der Kriegsfinanzierung seit 1914 und der Kriegskostenbewältigung in der Nachkriegszeit, "der über die Notenpresse finanzierten eskalierenden Budgetdefizite" (35). Ausgelöst aber wurde sie nicht durch Lohnerhöhungen und eine Expansion des Geldumlaufs, sondern durch "die starke Abwertung der Währung", die aufgrund des nach der Ermordung von Walther Rathenau im Juni 1922 massiven Vertrauensverlusts des Auslands in die Stabilität der Weimarer Republik "zum Kollaps des Außenwertes der Mark führte" (35). Heine und Herr stellen dieses, in anderen Arbeiten teilweise vernachlässigte währungspolitische Faktum klar heraus und folgen damit Auffassungen von Harold James, Thomas J. Sargent, Carl-Ludwig Holtfrerich u. a.
Währungspolitische Aspekte spielten auch beim Zustandekommen der Inflation in den 1970er Jahren eine Rolle. Man denke hier insbesondere an das Ende des Gold-Dollar-Standards infolge der Aufhebung der Umtauschpflicht von US-Dollar-Reserven in Gold durch US-Präsident Richard Nixon im August 1971, die zu erheblichen Turbulenzen in der Weltwirtschaft geführt hat. Im Unterschied zur Hyperinflation von 1922/23 gab es hier in den Vorjahren jedoch beachtenswerte Lohnsteigerungen, die für eine Erklärung der Inflationsdynamik mit heranzuziehen sind. Der Hinweis hierauf (51ff.) und die Zurückweisung der These, dass es allein der Ölpreisschock von 1973 war, der die Inflationswelle auslöste, ist das Neue bei Heine und Herr. Indem sie konstatieren, dass die Lohnentwicklung "ab Mitte der 1960er Jahre in keiner Weise der für eine makroökonomisch stabile Entwicklung zentralen Lohnnorm, wonach die Nominallohnerhöhungen entsprechend der mittelfristigen gesamtgesellschaftlichen Produktivitätsentwicklung plus einer Zielinflationsrate ausfallen sollten" (55), folgte, erklären sie die damalige Inflation zumindest partiell für "hausgemacht". Zugleich wird mit dieser Aussage eine Vorlage dafür geliefert, die gegenwärtige Inflation wesentlich als eine importierte, durch Preisniveauschocks internationaler Konzerne ausgelöste Erscheinung zu begründen. Im Unterschied zu den 1960er Jahren gab es im Vorfeld der jetzigen Preisanhebungen in Deutschland und in der EWU nämlich keine signifikanten Reallohnsteigerungen und folglich auch "keine relevante Lohn-Preis-Spirale" (148). Indem exogene Faktoren wie der Krieg in der Ukraine und die Verknappung einiger Rohstoffe und Vorprodukte, zudem der zwischenzeitlich schwache Euro, für die Preisentwicklung verantwortlich gemacht werden (129ff.), nicht aber die Löhne, argumentieren die Autoren durchaus stringent. Was sie dabei vernachlässigen, sind die gestiegenen Gewinnmargen der Konzerne und Unternehmen. Diese konnten im Inflationsprozess, wie inzwischen hinreichend belegt ist, nicht nur "gesichert" werden, sondern sie wurden massiv ausgeweitet und wirkten damit selbst inflationstreibend! Heine und Herr räumen zwar ein, dass "Monopol- und Monopsoneffekte" für eine gewisse Zeit preistreibend wirken können, halten "das Bild eines mittel- oder langfristig profitgetriebenen Inflations- oder Deflationsprozesses" aber für "irreführend" (174). Dass im Zuge der Inflation "die Ungleichverteilung der verfügbaren Einkommen drastisch zugenommen" hat (146), ist dagegen ein unbestreitbares Faktum. Als solches ist es aber eindeutig die Folge massiv gestiegener Gewinne auf Grund gestiegener Preise. Hieran gemessen erscheinen die von den Autoren formulierten "Empfehlungen" etwas zu einseitig: So wird empfohlen, die Löhne nur moderat, entsprechend der Lohnnorm, zu erhöhen. Andernfalls würde eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt und damit die Inflation verstärkt werden (151). Dies ist eine Lehre aus den 1970er Jahren. Aber was ist mit den Gewinnen? Gegenwärtig häufen sich die Nachrichten, dass Großunternehmen und Konzerne 2022 und 2023 Extragewinne in Größenordnungen realisiert haben. Heine und Herr betonen, dass sie "staatliche Eingriffe in Richtung einer ausgeglichenen Einkommens- und Vermögensverteilung für unerlässlich" halten (161). Das ist zu unterstreichen, erscheint aber im Vergleich zu den differenzierten Vorstellungen über eine moderate Lohnentwicklung in der Ausführung "schwach". Zumal die Regierung bisher wenig Neigung gezeigt hat, Maßnahmen zur Besteuerung von Übergewinnen oder zur Begrenzung des Vermögenszuwachses bei Reichen in Erwägung zu ziehen. ..."