"Kritische Studien zu Markt und Gesellschaft" · Band 13
337 Seiten
32.80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1442-5
(23. Dezember 2020)
Die These von einer ökonomisierten Gesellschaft besagt, dass in den letzten Jahrzehnten wirtschaftliche Prinzipien als verbindliche Handlungsorientierungen in Teilbereiche der Gesellschaft eingedrungen sind, die bisher nach anderen (nicht-ökonomischen) Logiken und Ethiken organisiert waren. Dies impliziert auch, dass die Ökonomie die Rolle einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft eingenommen hat. Ein wichtiger Aspekt betrifft die Rolle des Wissens selbst, gerade für eine Gesellschaft, die auch als Wissensgesellschaft beschrieben wird.
Damit stellt sich die Frage, welches Wissen ökonomische Ansätze wirtschaftlich handelnden Personen zuschreiben, wie theoretisches Wissen gesellschaftsrelevant werden kann und welches Wissen ökonomische Ansätze über sich selbst, über ihr Feld und ihre gesellschaftlichen Wirkungen besitzen. Zugleich betrifft das auch das Konzept von Nichtwissen, denn Wissen und Nichtwissen sind komplementäre Begriffe.
Die Beiträge im Buch untersuchen Konzepte von Wissen und Nichtwissen aus der Theoriegeschichte und in aktuellen Theorien der Ökonomie. Sie fragen nach den performativen Wirkungen ökonomischer Ansätze und versuchen damit Anregungen für eine neue Politische Ökonomie zu vermitteln.
"... Hiervon ausgehend untersuchen die zehn Beiträge des Bandes verschiedenartige Konzepte von Wissen und Nichtwissen aus der Theoriegeschichte und in aktuellen Ansätzen der theoretischen Ökonomie. Indem sie insbesondere die performativen Wirkungen ökonomischer Prinzipien untersuchen und kritisch hinterfragen, geben sie zugleich Anregungen für die Erarbeitung einer neuen Politischen Ökonomie. Dies gilt besonders für den einleitenden Aufsatz von Theresa Steffestun und Walter Otto Ötsch. Ihr Ausgangspunkt ist, wie nicht anders zu erwarten, die Covid-19-Pandemie und das "erstaunliche Nichtwissen" (7), welches durch das plötzliche Auftreten der Pandemie offenbar geworden ist. Dies betrifft nicht nur die medizinische Wissenschaft und deren Leerstellen, sondern gleichermaßen das gesellschaftswissenschaftliche Wissen, zum Beispiel über die Verletzlichkeit der ökonomischen und sozialen Stabilität. Die Autoren unterscheiden hier ein "Noch-Nicht-Wissen" und ein "Nicht-Wissen-Sollen" von einer "dritten Art des Nichtwissens", die "prinzipieller Natur" ist und "unausweichlich auftreten muss" (9). Ziel ihrer Ausführungen ist es, die Ansätze einer demokratischen Neuordnung gesellschaftlicher Konfigurationen von Wissen und Nichtwissen auf ökonomischem Gebiet mit Blick auf die gegenwärtigen Krisenphänomene zu diskutieren. Dabei wird unterstellt, dass sich der gegenwärtige Umgang mit Wissen und Nichtwissen "in ökonomischen Kontexten" vollzieht und sich "nur mit Ökonomisierungsprozessen im Blick hinreichend verstehen lässt". Erst das Verständnis unserer Gesellschaft als "ökonomisierte Gesellschaft" lässt erkennen, worin unser Wissen und insbesondere unser Nichtwissen bestehen. Zum anderen wird erst dadurch deutlich, "welches Wissen (noch) nötig ist, [...] damit ökonomisierte Gesellschaften auf Krisen [...] adäquat reagieren können" (14).
Es folgt ein geistreicher Essay von Birger P. Priddat, der die These vertritt, dass wirtschaftliches Handeln prinzipiell in einem Raum von Vermutungen stattfindet, der in hohem Maße durch Nichtwissen gekennzeichnet ist. Dies gilt für den Markt, wo über den Verkauf eines Gutes entschieden wird, ebenso für den Nutzen, den ein Gut stiften soll. Und erst recht für einen Investor, dessen Überlegungen und Handeln auf eine ungewisse Zukunft gerichtet sind. Daran schließt ein Aufsatz von Karl-Heinz Brodbeck an, der noch einen Schritt weiter geht, indem er ökonomisches "Wissen als liberale Fiktion" auffasst. Er kritisiert die Vorstellung Friedrich August von Hayeks, wonach Wissen eine ontologische Tatsache sei, "mit sich ident und nur den Individuen zukommend", und setzt dem seine Auffassung entgegen, wonach Wissen "von vorneherein" eine soziale Form besitzt (27f.). Die Kritik an Hayek fällt grundsätzlich aus: "Ideologie im Kleide der Wissenschaft" (57). Brodbecks Resümee lautet: "Hayek und andere Vertreter der Österreichischen Schule haben wortreich ideologischen Einfluss auf die Gesellschaft genommen, mit der nachhaltig verheerenden Wirkung des Marktfundamentalismus in vielen Ländern [...]. Von der klassischen Nationalökonomie haben sie nur das übernommen, was sich für ihr Ziel - den Kampf gegen alles 'Soziale' - verwenden ließ." (79) Brodbeck erblickt in diesem selektiven Verfahren, das sich zudem einer wissenschaftlichen Verkleidung bedient, nur eines, nämlich "Ideologie" (79).
Auch Walter Otto Ötsch widmete seinen Text dem Politik- und Ökonomiekonzept Hayeks. Er verweist insbesondere auf den Widerspruch, der aus der Gegenüberstellung des Unwissens der Wirtschaftsakteure zum überbordenden Wissen des Marktes, welches für Hayek "ein fundamentales Wissen der Gesellschaft" ist, entsteht (86). Damit verbunden ist ein bestimmtes Menschenbild, welches "fatale Konsequenzen" mit sich bringt: "Hayek will das Konzept der Vernunft, das die Aufklärung entwickelt hat, durch die Vorstellung einer beschränkten und gesellschaftlich weitgehend wirkungslosen Vernunft ersetzen." (89) An ihre Stelle tritt "der Markt" als ein "personifiziertes" und allem bisherigen Wissen überlegenes "wissensproduzierendes System" (91). Ötsch analysiert sehr anschaulich, was jeder aus den Nachrichten kennt, nämlich die Behandlung des Marktes als eine personifizierte, allwissende und totalitäre Institution, "die etwas aus sich heraus 'tut' oder 'macht'" und damit als eine "überpersönliche Instanz" fungiert, der "man" sich unterzuordnen hat (93f.). Indem der Autor die Konstruktion des Marktes bei Hayek als entscheidende "Denkgrundlage der ökonomisierten Gesellschaft" entlarvt, leitet er vom Nichtwissen über zu einem "falschen Wissen" (117). Die Denkfigur des Marktes fungiert dabei "wie eine Brille, welche die Aufmerksamkeit auf bedeutsame Weise [...] verformt" (120). Theresa Steffestun vertieft diese Aussage noch, indem sie nachweist, dass die normative Setzung des Marktes den Ausschlag dafür gibt, was als legitimes Wissen in der Wirtschaftsgesellschaft gilt und was nicht (133ff.)" ...
Wissen, Nichtwissen, Ökonomie
Wissen als liberale Fiktion
Wissen, Selbstwissen und Nichtwissen der marktfundamentalen Ökonomie
The Constitution of Ignorance – zur Bedeutung von Nichtwissen in der Verhaltensökonomie
Wissenswerte Erfahrung
Heterodoxie, Positivismus und Ökonomismus
Überwindet Gerechtigkeit die mörderische Herrschaft des Geldes?
Die narrative Krise der (Wirtschafts-)Wissenschaft und ihre Bedeutung in der globalen Umweltpolitik
Wie erzählen wir vom Gemeinsinn?