Joachim Zweynert
Hardcover, Fadenheftung, Personenregister
475
Seiten ·
48,00 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN
978-3-89518-395-9
(October 2002)
)
Ausgezeichnet mit dem Preis Bestes Buch auf dem Gebiet Geschichte des ökonomischen Denkens, verliehen von der European Society for the History of Economic Thought, 2003
Russland ist kein weißer, wohl aber ein hellgrauer Fleck im Geschichtsatlas der Wirtschaftswissenschaft. Diese Feststellung gilt nicht nur aus westlicher Sicht, sondern sogar in Russland selbst fehlt es bisher an einer befriedigenden Bestandsaufnahme des russischen ökonomischen Denkens. Zweynerts Studie schließt diese Lücke für das 19. und das frühe 20. Jahrhundert. Dabei wird erstmals auch liberalen Strömungen, wie etwa der Kiewer Schule, über die bis heute auch in Rußland so gut wie nichts bekannt ist, die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Der Verfasser, der mehrere Jahre in russischen Bibliotheken und Archiven recherchiert hat, zeigt, daß die wissenschaftliche Originalität der russischen Ökonomen des 19. Jahrhunderts unterschätzt worden ist. So stellt um nur ein Beispiel zu nennen die Lehre von der Produktivität der sogenannten inneren Güter, die für die russische Klassik charakteristisch war, einen wegweisenden Beitrag zur Theorie der wirtschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklung dar, der in den Annalen der Theoriegeschichte künftig seinen festen Platz finden dürfte.
Doch Zweynerts Monographie ist mehr als ein Handbuch. Den Ansätzen von Karl Pribram und Mark Perlman/Charles McCann Jr. folgend, fragt der Autor nach dem Zusammenhang zwischen der russischen Geistes- und Kulturgeschichte und den Traditionen des darin eingebetteten ökonomischen Denkens. Die Verbindung entdeckt er im patristischen Vermächtnis der russisch-orthodoxen Weltsicht, in dem sich Holismus und Anthropozentrismus in eigentümlicher Weise verschränken: Der Wunsch, eine umfassende Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit zu gewährleisten, habe die Mehrheit der russischen Denker fordern lassen, die Ganzheitlichkeit der Gesellschaft zu bewahren. Zweynert gelingt der Nachweis, dass ein Zusammenhang zwischen dieser Forderung und der traditionell ablehnenden Einstellung der russischen Intellektuellen zum Kapitalismus bestand und bis auf den heutigen Tag fortbesteht. Insofern vermittelt seine weit über den Tellerrand der reinen Ökonomik hinausweisende Studie auch überraschende Einsichten in die wirtschaftskulturelle Dimension des osteuropäischen Transformationsprozesses.
"Das fünfte Kapitel ist nicht minder interessant, ja sogar spannend und teilweise fesselnd geschrieben. Je weiter der Leser in der Lektüre fortschreitet, um so mehr nimmt ihn Zweynerts Darstellung der Hoch- und Tiefpunkte der Entwicklung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Russland gefangen. Der Streit um die Industrialisierung Russlands, das Ende der Autokratie, die außenpolitischen Probleme und die innenpolitischen Wirren, vor allem der Aufstand in St. Petersburg im Januar 1905, der 'blutige Sonntag', bilden den politischen Rahmen für die Entwicklung des ökonomischen Denkens in Russland, nach Zweynerts Sichtweise: des russischen ökonomischen Denkens. Er möchte die russischen Ökonomen 'aus ihrer eigenen Zeit heraus und in ihrem kulturellen Umfeld' begreifen. Darum geht es ihm! ...
Wichtig bleibt indessen Zweynerts Diagnose 'einer allgemeinen Abkehr vom Westen und einer Rückkehr zum eigenen kulturellen Erbe'. Wenn das so ist, wird das zunehmende Interesse an der Geschichte des russischen Denkens nicht nur verständlich, sondern dringend notwendig. Zur Vorbereitung ist das vorgelegte Buch nachdrücklich zu empfehlen."
Ein besonderes Verdienst des Autors ist darin zu sehen, dass er die Entwicklung des russischen ökonomischen Denkens in den Kontext der russischen Geschichte einbettet. Damit folgt er einem methodologischen Ansatz, wie er vor allem von Autoren wie Karl Pribram sowie Mark Perlman und Charles R. McCann jr. vertreten wird, worauf er selbst des öfteren hinweist. Gerade seine enge Anlehnung an Pribram hat aber auch eine gewisse Einseitigkeit zur Folge: Zwar berücksichtigt Zweynert durchaus den Einfluss der politischen und der Wirtschaftsgeschichte auf das ökonomische Denken, aber in erster Linie interessiert er sich für den Einfluss der russischen Kultur und speziell der russischen Mentalität auf die Lehren der von ihm behandelten Ökonomen....
Unbeschadet dieser Einwände ist festzuhalten: Zweynert hat ein für die Historiographie der russischen Wirtschaftswissenschaft wegweisendes Buch geschrieben. Es bleibt nur zu hoffen, dass es bald durch eine Übersetzung ins Russische dem dortigen Lesepublikum zugänglich gemacht wird."
Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts traten durchaus originelle Denker wie Christian Schlözer oder Heinrich von Storch auf. Insbesondere Storch ergänzte in seinem 'Cours d'economie politique' (1815) die klassische Lehre um eine für Rußland wichtige entwicklungstheoretische Komponente.
Der Reformperiode folgen andere Zeitabschnitte, in denen das Paradigma der englisch-schottischen Klassik zwar noch eine wesentliche Rolle spielt, aber von anderen Strömungen herausgefordert wird. Zweynert stellt sie in konziser Form dar: Immer wieder gibt es Auseinandersetzungen zwischen den 'Westlern' und den Slawophilen wie Ivan V Kireevskij und Aleksej S. Chomjakow, die zu den Vertretern einer Rückkehr zur religiösen Orthodoxie und zu einem agrarischen Sozialromantizismus im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts gehörten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommen russische Sonderformen des Marxismus dazu, wie sie zum Beispiel der 'Legal-Marxist' (weil seine Schriften nicht verboten wurden) Petr B. Struve hervorbrachte.
Zweynert ordnet in seinem klar und anschaulich gegliederten Buch das Werk der jeweiligen Ökonomen sorgfältig in den historischen und biographischen Hintergrund ein, ohne daß diese Einordnung die Darstellung der vorgestellten Thesen verzerrt. Die Bewertungen, die er trifft, sind präzise abwägend. Fachleute und interessierte Laien können dieses Buch gleichermaßen mit Gewinn lesen. Es ist als Einführung für alle, welche die russische Ökonomie entdecken möchten, wärmstens zu empfehlen."