281 Seiten
36.80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1240-7
(November 2016)
20 farbige Abbildung, Großformat 17 x 24 cm
Die Studie "Wachstums- und Investitionsdynamik in Deutschland" beleuchtet sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene das nach wie vor stark diskutierte Thema einer möglichen Investitionslücke in Deutschland.
Hierbei werden die Bestimmungsfaktoren privater wie öffentlicher Investitionen herausgearbeitet. Der Zusammenhang zwischen Investitionen und Wachstum steht ebenso im Mittelpunkt der Diskussion wie die gerade im Lichte jüngster Revisionen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung besonders relevante Abgrenzung und Definition eines modernen Investitionsbegriffs (der zum Beispiel Bildung, Forschung und öffentliche Infrastruktur berücksichtigt).
Die Argumentation innerhalb der Studie erfolgt auf Grundlage einer ausführlichen vergleichenden Darstellung internationaler und sektoraler Investitionsquoten, durch die Deutschlands aktuelle Lage aufgezeigt und dokumentiert wird. Aus einer kritischen Betrachtung der gewonnenen theoretischen und empirischen Erkenntnisse werden anschließend konkrete wirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen abgeleitet. Hierbei wird die Notwendigkeit eines öffentlichen Investitionsprogramms betont und es wird hervorgehoben, welche unterschiedlichen Effekte infolge der Implementierung verschiedener Maßnahmen erwartet werden können. Die Studie schließt mit einem Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen.
"Es verwundert bei einer sich derart komplex darstellenden Sachlage nicht, dass das Kapitel "Wirtschaftspolitische Implikationen" bzw. die Schlussfolgerungen wiederum ziemlich differenzierte Überlegungen enthält, die nicht unbedingt nach dem Geschmack des "Klartext" fordernden Politikers ausfallen.
Eine Reduktion dieser Überlegungen auf Kernaussagen ergibt aus der Sicht des Rezensenten folgendes Bild. Bei den Ausrüstungsinvestitionen kann von einer angebotsseitig bedingten Lücke nicht gesprochen werden. Wenn im privaten Sektor zu wenig investiert wird, so liegen gewisse Defizite in der Kategorie "Geistiges Eigentum" (FuE-Aufwendungen). Außerdem plädieren die Autoren für eine deutliche Anhebung der Bildungsausgaben, die nach ihrer Ansicht nicht als öffentlicher Konsum, sondern als Investition klassifiziert werden sollten, um 0,5% des BIP.
Wenn es eine Investitionslücke dennoch gibt, so besteht sie im Bereich der öffentlichen Infrastrukturinvestitionen, wofür sich aus einer detaillierten Betrachtung der Komponenten des Infrastruktur-Kapitalstocks Hinweise ergeben. Die Bruttoinvestitionen des Staates betrugen zuletzt 2,2% des BIP, bei steigendem Verlauf seit 2004, jedoch deutlich niedriger als durch die vom Wiedervereinigungsboom geprägten Jahre nach 1991. Netto sind die staatlichen Investitionen seit Jahren negativ, der "Modernitätsgrad" der Verkehrsinfrastruktur hat in einigen Teilsegmenten sichtbar abgenommen. Auch mehrere Bottom-up-Betrachtungen stützen diesen Befund. Der zusätzliche Investitionsbedarf bei staatlicher Infrastruktur wird auf 5 bis 10 Mrd. € pro Jahr geschätzt. Verschiedene Bottom-up-Schätzungen des Bedarfs an Investitionen zum Ausbau der Telekommunikationsnetze ("Breitband-Netze") erscheinen in ihrer Glaubwürdigkeit gemindert angesichts der exzessiven Bandbreite. Eine beschleunigte Umsetzung könnte nach Ansicht der Autoren nicht nur durch Erzeugung stärkeren Wettbewerbsdrucks durch Änderung der Regulierung der TK-Märkte bewirkt werden, sondern auch durch Verstaatlichung der TK-Netzinfrastruktur.
Die klare Empfehlung, welche in der Studie auf Basis der dort selbst angestellten Analysen abgeleitet werden, ist für "ein großangelegtes staatliches Investitionsprogramm, insbesondere da von einem solchen Investitionsprogramm sowohl angebotsseitige als auch nachfrageseitige Investitionshemmnisse beseitigt werden könnten" (S. 229). Das Ausmaß eines solchen Programms zusätzlicher Investitionen liegt allerdings deutlich unter 1% des BIP (in Deutschland aktuell etwa 30 Mrd. €), näher bei einem halben Prozent. Das erscheint gegenüber den Ambitionen der ministeriellen "Expertenkommission" sehr moderat. Und dennoch dürfte die Botschaft der Studie von Hagemann et al. viel ambitionierter sein als alle Studien, die mit großen Zahlen beeindrucken, nämlich dadurch, dass die vielbeklagte Investitionsschwäche auf ihren wirklichen Grund zurückgeführt wird: die Schwäche der Binnennachfrage, und hier weniger der (privaten) Investitionen als des Konsums (privat, aber auch öffentlich). Der langfristigen Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft liegt eine kumulierte Lücke der Binnennachfrage von etwa 2,5% des BIP seit 1991 zugrunde. "Die Investitionstätigkeit wird auch durch die Entwicklung der Konsumnachfrage geprägt. Eine Stimulierung der Binnennachfrage durch eine wieder stärker produktivitätsorientierte Lohnpolitik und eine Korrektur des negativen Trends bei den öffentlichen Investitionen sowie mehr Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung, und damit eine Verbindung der Einsichten von Keynes und Schumpeter, wären nicht nur für Deutschland vorteilhaft, sondern würden zugleich einen sinnvollen Beitrag zur Überwindung der Wirtschaftskrise in Europa leisten" (S. 237f).
Unverständlich bleibt hier, warum die andere Möglichkeit der Nachfragebelebung, nämlich durch eine Senkung der Lohn- und Einkommensteuer, in der deutschen Diskussion bisher fast keine Rolle gespielt hat. Der konservative Finanzminister steht einer nachfrageseitigen Belebungsmaßnahme grundsätzlich skeptisch gegenüber, er möchte so stark und so rasch wie möglich den öffentlichen Schuldenstand senken - dieses Ziel hat Priorität vor der Senkung der Steuerbelastung, der seine Partei aber an sich nicht abgeneigt ist. Für die Sozialdemokraten scheint eine Steuersenkung mit dem Odium des Neoliberalismus belastet zu sein. Eine Steuersenkung haben sie bisher kategorisch ausgeschlossen, sie treten für eine Wachstumsbelebung ausschließlich durch öffentliche Investitionen ein. De facto bedeutet dies allerdings den Verzicht auf einen Impuls in makroökonomisch relevanter Größenordnung durch Erhöhung der Nachfrage, weil eine Maßnahme deswegen als diskreditiert gilt, wenn sie von politischen Gegnern gutgeheißen wird. Eine sachliche Begründung ist es allerdings nicht, ein mögliches keynesianisches Instrument zur Stärkung der Nachfrage deshalb zu verwerfen.
In der Situation, in der sich Deutschland und die europäische Wirtschaft derzeit befinden, wäre der Vorteil einer Steuersenkung, die vor allem die unteren und mittleren Einkommen entlastet, ein zweifacher: Für eine Belebung der Binnennachfrage kann erstens mit einer Steuersenkung der private Konsum viel rascher und auch massiver erhöht und damit das Wachstum stärker angeregt werden als durch ein Programm staatlicher Investitionen, das zuerst zahlreiche Hindernisse überwinden müsste und dessen Implementierung daher viel langsamer vonstatten geht. Wenn aufgrund unterschiedlicher Multiplikatoren 1 Mrd. € für eine Steuersenkung weniger wirksam sind als für Investitionen, so ist dies aus europäischer Sicht zweitens ein Vorteil, denn die Steuersenkung würde zweifellos zu einer fühlbaren Erhöhung der Importe Deutschlands führen, viel mehr als ein Investitionsmilliarde. Einem solchen Argument sollte man sich gerade in Deutschland mehr aufgeschlossen zeigen, statt sich jedes Jahr über neue Rekorde des Leistungsbilanzüberschusses zu freuen. So gesehen wäre eine Steuersenkung in Deutschland aus europäischer Sicht ein wichtiger Schritt zur Korrektur des einseitigen Exportmerkantilismus - er schadet den deutschen Exporten keineswegs, aber er hilft den europäischen Handelspartnern bei der Überwindung ihrer Wachstumsschwäche. ...
In Deutschland sind aber alle Diskussionen über Maßnahmen zur Investitions- und Wachstumsbelebung insofern vergeblich, als sie an der 2009 eingeführten "Schuldenbremse" und ihrer unvermindert strengen Auslegung scheitern. Die Studie von Hagemann et al. zeigt, dass es wirklich nennenswerte Maßnahmen zur Investitionsbelebung gar nicht gibt, die nicht an diese Barriere anstoßen, außer der genannten stärker produktivitätsorientierten Lohnpolitik, an welche die Autoren aber nicht so recht zu glauben scheinen. Wenn die Studie nicht von vornherein verlorene Mühe sein soll, so müsste zumindest die Schuldenbremse weniger streng angewendet werden, um wenigstens ein makroökonomisch wenig relevantes, in der Umsetzung ohnehin schwerfälliges öffentliches Investitionsprogramm auf den Weg zu bringen. Was die Autoren zu Recht als grotesk ablehnen, ist das Inkaufnehmen der exorbitant teuren PPP-Finanzierung in einer Zeit, in der eine direkte Finanzierung mehr oder weniger zum Nullzins möglich wäre. Eine Senkung der Einkommensteuer oder/und ein Programm öffentlicher Investitionen wären in der Lage, kurzfristig einen Impuls von der Nachfrageseite für mehr Wachstum und Beschäftigung zu geben. Eine nachhaltige Belebung der wirtschaftlichen Dynamik ergibt sich daraus dann, wenn das Niveau der Investitionen, insbesondere der privaten Investitionen, dauerhaft ansteigt. Langfristig besteht die Schlüsselrolle der Investitionen darin, dass sie die Produktionskapazitäten einer Volkswirtschaft erweitern sowie Träger des technischen Fortschritts sind. "Gleichzeitig hängen Investitionen andererseits auch wiederum selbst von der gesamtwirtschaftlichen Aktivität ab, denn Unternehmungen werden besonders dann zu Investitionen bereit sein, wenn ein positives Umfeld und die Perspektive auf hohes Wachstum und entsprechende Absatzmöglichkeiten in der Zukunft Investitionen attraktiv machen" (S. 240). Dies macht nach Ansicht der Autoren weitere Forschung unerlässlich. Eigentlich bietet aber ihre Studie schon genügend überzeugende Argumente für einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik."