Reformen sind im politischen Diskurs allgegenwärtig. Als politisch umgesetzte Veränderungen des institutionellen Rahmens oder einzelner Mechanismen sind sie integrierender Bestandteil jenes dynamischen Veränderungsprozesses, der die moderne Wirtschaft insgesamt auszeichnet. Die Beiträge dieses Bandes diskutieren die Möglichkeiten und Grenzen rationaler Reformen, indem sie deren Kernprobleme in den Blick nehmen:
- Welche Rolle können Expertinnen und Experten, insbesondere Ökonominnen und Ökonomen, in der Reformpolitik spielen? Welche Rolle spielen Eigeninteressen und disziplinäre Prägungen in der Politikberatung?
- Inwiefern und unter welchen Voraussetzungen können theoretische Modelle und empirische Evidenz über Wirkungszusammenhänge Reformpolitik in der realen Welt fundieren?
- Welches sind die Stärken und Schwächen unterschiedlicher empirischer Methoden, etwa jener der experimentellen Ökonomik?
- Worin besteht die Bedeutung normativer Konzepte, etwa von Gerechtigkeitsüberlegungen und alternativen Wohlstandsindikatoren?
Die Rolle von Theorie, Empirie und angemessenen Bewertungskriterien wird auch anhand ausgewählter Politikfelder (Alterssicherung, Familie, Gesundheit, Caring) diskutiert.
Richard Sturn
Reformen und der natürliche Lauf der Dinge
Werner Güth, Hartmut Kliemt
Experts and Evidence in Economic Policy
Gebhard Kirchgässner
Sind Ökonomen als politische Berater so gut und neutral, wie sie
selbst gemeinhin annehmen? Einige kritische Anmerkungen
Ronnie Schöb
Politik nach Zahlen: Der Einfluss alternativer
Wohlstandsindikatoren auf die Wirtschaftspolitik
Joachim Weimann
Verhaltensökonomik und Politikberatung
Miriam Beblo
Experimente in der Familienökonomik
Stéphane Luchini, Miriam Teschl
Effort and Redistribution: Is More Than Value Judgement Involved?
Bernhard Streicher
Die Bedeutung prozeduraler Gerechtigkeit bei Änderungen
des Status-Quo
Friedrich Breyer
Effizienz und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen - eine
Design-Herausforderung
Gisela Kubon-Gilke, Sophie Kleinmann
Caring - Qualitätsmaßstäbe und Performancekriterien
in personennahen Dienstleistungen
Luise Görges, Miriam Beblo
Heldinnen der Arbeit? Zur Entwicklung geschlechtsspezifischer
Berufspräferenzen in Ost- und Westdeutschland
Johann K. Brunner
Probleme und Perspektiven des Übergangs vom
Umlageverfahren auf Formen des Kapitaldeckungsverfahrens
Martin Werding
Demographische Alterung: Neuer Generationenvertrag und die
Rolle der Kapitaldeckung
Wohl kaum ein Begriff ist derzeit im politischen Diskurs so diskreditiert wie jener der Reform. Anstatt der verheißungsvollen Veränderung zum Besseren passiert in den Augen vieler Beobachter zu häufig - nichts. Und dennoch: Reformen als Ausdruck permanenter Veränderung und Anpassung sind im politischen Betrieb nahezu allgegenwärtig. Dabei gelte es auszuloten, so Richard Sturn in seinem einleitenden Beitrag, wo genau der schmale Grat zwischen - mitunter durchaus berechtigten - Logiken des Sachzwanges und "relevanten Alternativen" (12) verlaufe und wie weit Reformen in komplexen, diversifizierten Gesellschaften überhaupt reichen können. Allen Beiträgen geht es dabei ex‑ oder implizit um die Frage, wann es überhaupt an der Zeit für Reformen ist. Ihre inhaltliche Varianz ist dabei groß. Ronnie Schöb geht in seinem eher breit angelegten Beitrag der Frage nach, inwieweit reforminduzierende Gegenwartsdiagnosen derzeit überhaupt auf adäquate Indikatoren zurückgreifen können. Ein "idealer Wohlstandsindikator" (84), so seine Einschätzung, sei dabei nicht in Sicht. Denn eindimensionale Wohlstandsindikatoren, wie etwa die Orientierung am inländischen Wirtschaftswachstum über die Bemessung des BIP, seien nicht nur stark normbelastet, sondern auch so ausgewählt, dass sie komplexe Wirklichkeiten und Wechselwirkungen kaum mehr abzubilden vermögen. In einem thematisch wesentlich enger gefassten Beitrag geht Johann K. Brunner der Frage nach, ob ein beitrags‑ oder ein kapitalgedecktes Renten‑ und Pensionssystem zukunftssicherer sei: "Die gravierende Änderung der demographischen Struktur in vielen Staaten - die Alterung der Gesellschaft - macht die öffentliche Finanzierung des öffentlichen Pensionssystems zu einem Dauerthema der politischen Debatte." (289) Dabei, so Brunner, scheint ein gemischter Ansatz zur Reform am erfolgversprechendsten: Die weitere moderate Heraufsetzung des Renteneintrittsalters scheint dabei ebenso angezeigt wie eine stärkere private Vorsorge durch mittlere und höhere Einkommensschichten. Gerade die unteren sozialen Schichten, so sein Plädoyer, dürften im Reformprozess nicht vergessen und schon gar nicht abgehängt werden. Gefordert sei damit allerdings Mut zur Umverteilung."