Das Zauberwort Innovation beherrscht nicht
nur die öffentlichen Debatten über nachhaltige
Entwicklung, sondern auch den wissenschaftlichen
Diskurs um gesellschaftliche
Nachhaltigkeitstransformation. Das Antonym
Exnovation, d.h. die Abschaffung von
Altem, ist dagegen kaum gebräuchlich und
nur unzureichend elaboriert. Ohne begleitende
Exnovationen haben Innovationen
aber lediglich additiven Charakter: Sie führen
oftmals zu einem Mehr an Produktion
und Konsum, mithin zu einer Verschärfung
ökologischer Probleme. In manchen Bereichen
scheint gar das ersatzlose Streichen unhaltbarer
Produktionsweisen und Konsumpraktiken
angesagt, also Exnovation ohne
Innovation. Höchste Zeit also, Prozesse des
Abschaffens stärker in den Blick zu nehmen
und den Begriff der Innovation einer
kritischen Reflexion zu unterziehen. Entstanden
aus einer Tagung der Nachwuchsgruppe
Umweltsoziologie erschließt der
vorliegende Band aus vielfältigen disziplinären
Perspektiven das Forschungsfeld.
Cordula Kropp
Exnovation - Nachhaltige Innovationen als Prozesse der Abschaffung
Innovation revisited
Michael Kunkis
'Innovation' aus einer sozial-ökologischen Perspektive
Jiska Gojowczyk
Isomorphe Innovation: Umweltmanagement in Evangelischen Landeskirchen in Deutschland
Franziska Engels
Doppelte Komplexität von Mobilitäts- und Energiewende Wirtschaftsunternehmen als Akteure der ko-evolutionären Transformation
Innovation und Exnovation in Governance-Perspektive
Martin David
Fundamente von Exnovations-Governance im Transformationsdiskurs. Ein erster disziplinübergreifender Literaturvergleich
Daniel Belling
Normative Innovationen: Umweltstandards als Wettbewerbsvorteil
Sophia Alcantara, Sandra Wassermann
Initiierung und Begleitung sozialer Innovations- und Exnovationsprozesse im Rahmen von Stadtteilaktivitäten zur Energiewende
Innovation und Exnovation im (individuellen) Umwelthandeln
Martin Schweighofer, EnergyCultures Research Group Zeppelin Universität Friedrichshafen
Die Elimination sozialer Praktiken. Eine Herausforderung auf dem Weg zu suffizienten Alltagskulturen
Amrit Bruns
Motive und Hemmnisse künftigen Stromverbrauchverhaltens
Maximilian Schmies, Maria Seewald
Psychologische Glückspotentiale in der Suffizienz. Ein positiver Beitrag zum Kulturwandel
Sebastian Johann
Energieeffizienz bei Wohngebäuden - (k)ein Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik
Franziska Vaessen, Sarah Schmitz, Lenard Gunkel, Moritz Boddenberg
Solidarische Landwirtschaft. Eine soziale Innovation im Spannungsfeld gesellschaftlicher Veränderungsprozesse
Ein Blick über den Tellerrand der Nachhaltigkeitsforschung
Alexander Kleinschrodt
Lärmschutzpolitik im Spannungsfeld von Innovation und Exnovation
Luise Tremel
Logiken des Aufhörens Was sich aus dem historischen Fall der Sklaverei lernen lässt
P.S., 1/2016, S. 16-17
(Hans Steiger)
"In der Reihe "Ökologie und Wirtschaftsforschung" ist als Band 99 (!) die Dokumentation einer Tagung erschienen, welche die Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie durchgeführt hat. Thema: "Innovation - Exnovation". Klingt der zweite Begriff neu? Präzis da liegt das Problem! Von allen Seiten wird andauernd nach Innovationen gerufen, nicht zuletzt als Win-Win-Weg hin zu einem grünen Wachstum. Und die Kehrseite der Medaille? Wer nur die "Einführung des Neuen" propagiert, ohne an die "Ausführung des Alten" zu denken, "verschleiert aber den Blick auf die Komplexität vieler Veränderungsprozesse, mit denen sich moderne Gesellschaften momentan konfrontiert sehen." Hier geht es zum Beispiel um die halbwegs bekannten Rebound-Effekte: Was an Energie oder Material eingespart wird, wird zumeist durch Mehrkonsum egalisiert oder übertroffen. Aber auch seltsame Halbheiten etwa beim Lärmschutz, die grosse Differenz zwischen ein bisschen mehr Bio und einer solidarischen Landwirtschaft werden gezeigt. Bei den "Logiken des Aufhörens", welche Luise Tremel zum Schluss mit Bezug auf den historischen Fall der Sklaverei anspricht, besteht in der sich gern grün gebenden Konsumgesellschaft sicher Innovationsbedarf.
Attraktiv und ermutigend wirkt der Beitrag von Maximilian Schmies und Maria Seewald. "Psychologische Glückspotentiale in der Suffizienz" mag als Titel abgehoben tönen; der Inhalt ist es nicht. Es geht um unseren Alltag, ums Konzipieren von Alternativen und um entsprechendes Tun mit Breitenwirkung. Denn "im Rahmen einer demokratischen und freiheitlichen Grundordnung" lassen sich reduktive Lebensstile kaum mit moralischen Geboten oder gesetzlichem Zwang durchsetzen. Um den nachhaltigen Wandel "hin zu ressourcenschonenden Lebens- und Wirtschaftsweisen" zu schaffen, muss er von einer Vielzahl gesellschaftlicher Milieus als erstrebenswerter Weg wahrgenommen werden. Nicht zuletzt ist schrittweise vorzuführen, dass es "einen Ausweg aus der Tretmühle der steigenden Bedürfnisse" gibt. Den beiden Schreibenden ist das aktive Engagement im alternativen Milieu anzumerken; ihre "noch unveröffentlichte Masterarbeit" bringt dazu hoffentlich bald mehr."