Nach den Rettungsmaßnahmen der Staaten für die Banken 2008 begann erneut die Debatte um den Zustand der liberalen Demokratien. War im ersten Überschwang der sogenannten Systemrettung noch von einer Rückkehr des Politischen die Rede,
häuften sich schnell kritische Nachfragen nach der Legitimation der Regierungen bei den Interventionen zugunsten des Finanzmarktes. Immer klarer wurde, dass der Kern der liberalen Demokratie, das Budgetrecht der Parlamente, durch oligarchische Entscheidungszentren bedroht ist. Im Zentrum der Debatte stand Colin Crouchs These von der "Postdemokratie", von der Aushöhlung
demokratischer Institutionen im neoliberalen Zeitalter. Der Band lässt Crouch seine These noch einmal prägnant vorstellen
und setzt sich, das ganze Spektrum von affirmativ bis kritisch umfassend, mit der postdemokratischen These auseinander.
Daneben wird in grundsätzlichen Beiträgen der Frage nachgegangen, wie es derzeit um die liberale Demokratie bestellt ist, und welche Möglichkeiten bestehen, demokratische Institutionen gegen den Zugriff von nichtlegitimierten Pressure Groups, Konzernen und Banken zu schützen.
Jürgen Nordmann
Vorwort
Colin Crouch
Postdemokratie und das Überleben des Neoliberalismus
trotz der Krise
Anton Pelinka
Wider die Nostalgie, wider das Wunschdenken.
Koreferat zu Colin Crouchs Festvortrag
Bob Jessop
Ist Demokratie noch "die denkbar beste politische Hülle des
Kapitalismus"? Bemerkungen zur Postdemokratie-These
Luciano Canfora
Europäische Post-Demokratie. Eine kurze Intervention
Ingolfur Blühdorn
Die Postdemokratische Konstellation.
Was meint ein soziologisch starker Begriff der Postdemokratie?
Marie-Christine Kajewski
Leerstelle Leidenschaft.
Zu einem vergessenen Element der Demokratietheorie
David Salomon
Der Bürger als Edelmann?
Zur Kritik liberaler und postdemokratischer Konzepte
des politischen Subjekts
Dirk Jörke
Demokratietheorie ohne demos
Wolfgang Plaimer
Postdemokratie in Österreich?
Dario Azzellini
Venezuelas Transformationsprozess von der repressiven Formaldemokratie zur partizipativen und protagonistischen Demokratie
Karin Fischer
Der Gesellschaftsvertrag einer Diktatur: Ideen- und Realgeschichte
der chilenischen "Verfassung der Freiheit"
Wolfram Elsner
"Neo-Liberaler" Finanzkapitalismus versus Demokratie.
Finanzkrise, Systemkrise - und warum der degenerierte
Finanzkapitalismus selbst mit formaler Vertretungsdemokratie
unverträglich geworden ist. Eine Polemik
Arne Heise
Die Transformation der Gesellschaft in der Demokratie
und einige offene Fragen
Klaus Dörre
Wirtschaftsdemokratie - eine Bedingung
individueller Emanzipation
"Colin Crouch hat mit seiner 2008 veröffentlichten Studie über 'Postdemokratie' prägnant typische Defizite in der Entwicklung moderner Demokratien benannt, die rasch in Medien und Sozialwissenschaften aufgegriffen und diskutiert worden sind. Dieser Band enthält Kommentare und Kritiken zur Postdemokratie?These; er beruht auf einer im Dezember 2011 an der Johannes Kepler Universität Linz durchgeführten Tagung. Im Eröffnungsreferat resümiert Crouch seine Diagnose, dass in Folge von Globalisierung, transnationaler Verflechtungen und neoliberaler Deregulierungen demokratische Prozesse zunehmend an Substanz verlieren. Zwar bleiben im postdemokratischen Zustand formaldemokratische Standards erhalten, faktisch jedoch verlagern sich Entscheidungen vom Parlament in Zirkel wirtschaftlicher Eliten und technokratischer Expertengremien. Politische Partizipation verkommt zum konsumistischen Medienspektakel und die Interessen der unteren sozialen Schichten werden systematisch ignoriert. In der Summe akzeptieren die Autoren in den folgenden Beiträgen Crouchs Überlegungen als Beschreibungen aktueller Entpolitisierungsphänomene, kritisiert wird indessen deren theoretische Einbettung. Das betrifft zunächst die fragliche, nostalgisch getönte Rede vom Verlust realer Demokratie (Pelinka). Teils beziehen sich die Einwände auf Argumentationen klassischer Kritik der politischen Ökonomie (Jessop; Elsner) oder solche der neueren politischen Ökonomie (Heise). Teils - und dann soziologisch anregender - geht es um konzeptionelle Alternativen mit Blick auf das Verständnis politischer Emotionen (Kajewski), Formen politischen Widerstands (Salomon) oder einer Reformulierung der Postdemokratiethese auf Basis der Theorie reflexiver Modernisierung im Sinne Ulrich Becks (Blühdorn). Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist der Beitrag von Jörke hervorzuheben, der Crouchs Zeitdiagnose vor dem Hintergrund zivilgesellschaftlicher, deliberativer und expertokratischer Demokratiemodelle kritisch interpretiert."