2. Auflage Dezember 2006
284 Seiten
22,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-89518-569-4
(September 2006)
"Ein Dreiklang aus investieren, sanieren, reformieren" - unter dieses Motto, das wohl bewusst auf die Grundlagen der Harmonielehre anspielt, hat die Bundesregierung Merkel ihre wirtschaftspolitische Strategie in der laufenden Legislaturperiode gestellt. Kanzlerin Angela Merkel spricht dabei von einer "Politik der kleinen Schritte" - Projekte von großer Tragweite stellt die Koalition aus CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag mithin nicht in Aussicht.
Welche Richtung diese "kleinen Schritte" auf den wichtigsten Politikfeldern der Wirtschafts- und Sozialpolitik einschlagen, wie sie begründet und zu bewerten sind, untersuchen die Beiträge dieses Sammelbandes. Dabei beleuchten die Aufsätze auch die Politik der Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder.
Von einer "Lebenslüge" spricht der nordrhein westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers mit Blick auf Gewinne, Investitionen und Arbeitsplätze. Seine Partei, die CDU, müsse sich von der simplen Gleichung verabschieden, dass Gewinne automatisch Arbeitsplätze schüfen. Diese von Rüttgers aufgedeckte "Lebenslüge" ist nicht der einzige Zusammenhang, den Politiker falsch interpretieren. Das ist die Kernbotschaft des vorliegenden Sammelbandes.
Elf Autorinnen und Autoren stellen in neun Beiträgen die gegenwärtige Politik und ihre "irritierenden" Begründungsmuster systematisch auf den Prüfstand. Im Einzelnen geht es um die Finanz und Steuerpolitik, die Verteilungs , Beschäftigungs , Sozial-, Renten-, Gesundheits- und die Bildungspolitik. Alle Themen im Zentrum der aktuellen Reformdebatte werden behandelt um so bemerkenswerter ist der gemeinsame Befund: Die politische Debatte findet auf fragwürdigem empirischen und wissenschaftlichen Fundament statt, und sie nimmt vor allem die Erfahrungen anderer Länder nicht zur Kenntnis.
In der einleitenden Analyse der makroökonomischen Politik in Deutschland - von der rot-grünen bis zur großen Koalition - zeigt der Sammelband, dass sich für die gängige These einer "strukturellen Krise" keine empirische Bestätigung finden lässt. Eine solche Krise beruht auf angeblich überregulierten Arbeitsmärkten und einem beschäftigungsfeindlichen sozialen Sicherungssystem. Die Autoren zeigen, dass vielmehr eine makroökonomische Fehlentwicklung - vor allem hervorgerufen durch eine Politik der Lohnzurückhaltung, eine restriktive Finanz- und eine falsche Geldpolitik - Ursachen für geringes Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit sind. Wenn bereits die Diagnose falsch ist, verwundert es nicht, dass die Therapie nicht anschlägt.
Niedriglöhne sind das Problem
Weiter wird begründet, dass nicht zu hohe Löhne, sondern sich ausbreitende Niedriglöhne das zentrale Problem sind. Kombilöhne sind unter anderem wegen der Gefahr eines weiteren Sinkens der Marktlöhne keine Lösung. Vorzuziehen sind branchenübergreifende Mindestlöhne.
Dass die bisher verfolgten Rezepte nicht anschlagen, zeigen nicht nur die seit vielen Jahren - mit konjunkturbedingten Unterbrechungen wie derzeit - steigenden Arbeitslosenzahlen. Das belegt ebenfalls die wachsende Schere zwischen Armut und Reichtum. Auch hier ist eine mangelhafte Diagnose Ursache einer falschen Politik. Wachsende Ungleichheit werde nicht nur in Kauf genommen, sondern gelte als Bedingung für die Rückkehr zu mehr Wachstum und Arbeitsplätzen. Wachsende Ungleichheit ist dafür aber keine Voraussetzung. Dies verdeutlicht das Buch mit einem Vergleich des deutschen mit dem skandinavischen Wohlfahrtsstaat. Die skandinavischen Länder widerlegen das neoliberale Credo, demzufolge viel Staat unweigerlich wirtschaftliche Schwäche bedeutet. So ist die umfangreiche öffentliche Beschäftigung in den skandinavischen Ländern ein wesentlicher Faktor der niedrigen Arbeitslosigkeit. Demgegenüber sehen Politiker in Deutschland im Abbau von öffentlichen Arbeitsplätzen Stichwort "schlanker Staat" - die Lösung. Ähnlich sieht es mit öffentlichen Investitionen oder Bildungsausgaben aus.
Der Sammelband zeigt eindrucksvoll, dass eine Politik, die mehr Markt und weniger (Sozial )Staat zu ihrer Maxime erklärt hat, zum Scheitern verurteilt ist. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Politik beginnen würde, sich ernsthaft mit der wachsenden Kritik an den zugrunde liegenden Prämissen auseinander zu setzen. Das vorliegende Buch bietet einen hervorragenden Einstieg.
"Auf dem Prüfstand stehen die zentralen Annahmen neoliberaler Politik und ihrer Umsetzung in der Bundesrepublik, darunter der demographischen 'Sachzwang' und die angebliche Notwendigkeit zur Deregulierung des Arbeitsmarktes. Indem diese Agenda Punkt für Punkt abgehandelt wird, lässt sich schließlich eine große These begründen: die Wirtschafts- und Sozialpolitik der schwarz-roten Koalition ist dieselbe wie die der rot-grünen.
'Konstante Rentenpolitik' - so überschreibt zum Beispiel eine der Autorinnen, Diana Auth, ihren Beitrag zur Altersvorsorgung.
Dabei handelt es sich aber keineswegs um Stillstand, sondern um die Fortsetzung einer Dynamik, die nach 1998 vom Kabinett Schröder-Fischer in Gang gesetzt wurde. Die angebliche Untätigkeit, die von einigen Marktradikalen der Kanzlerin vorgehalten wird, entpuppt sich als eine prima Strategie: die Weichen sind schon mit der Riester-Rente, mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV gestellt worden. Man muss jetzt nur vermeiden, dass daran noch etwas geändert wird. Das ist aktives Aussitzen.
Die Autorinnen und Autoren des Bandes wollen es allerdings für sich nicht dabei bewenden lassen. Sie nennen Alternativen. Cornelia Heintze beleuchtet die deutschen wohlfahrtsstaatlichen Perspektiven im Lichte skandinavischer Erfahrungen, und angesichts der gewaltigen Unterschiede, die dabei sichtbar werden, kann einem schwindelig werden. ...
So weitet sich schließlich der Blick über das Einjahres-Jubiläum [der großen Koalition] hinaus: einerseits auf mittlerweise acht Jahre einer gründlich verfehlten Politik, andererseits auf mindestens ein Jahrzehnt notwendiger zukünftger Kämpfe.
"Die schwarz-rote Koalition betreibt eine Politik der Kontinuität, vergleicht man sie mit der vorangehenden rot-grünen Koalition - und es ist keine gute Kontinuität. Der Sozialabbau geht in unvermindertem Tempo weiter, eine grundlegende Wende in der Wirtschaftspolitik ist unterblieben, der Druck auf die Löhne größer denn je. Diese Feststellungen sind weder sonderlich neu noch sind sie überraschend, und doch ist es gut, dies empirisch gut belegt in lesbarer Form präsentiert zu bekommen.
Im Mai diesen Jahres veranstaltete der DGB Hessen eine Tagung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der CDU-CSU-SPD-Bundesregierung. Aus dieser Tagung heraus ist nun ein Tagungsband erschienen, der ausführliche Fassungen der Referate enthält und diese ergänzt durch weitere thematisch relevante Texte. Entstanden ist ein Buch, das zu lesen all jenen empfohlen sein sollte, die noch immer an das soziale Gewissen der SPD glauben - und auch jenen, die dies nicht (mehr) tun, die aber nach empirischen Fakten suchen, um ihre Position zu untermauern.
Alles in allem bietet der Tagungsband eine fundierte, umfassende Gesamtdarstellung der schwarz-roten Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sich mit Gewinn lesen lässt. Gerade dass er heiß diskutierte Themen sachlich und nüchtern aus einer gewerkschaftlichen Perspektive betrachtet, macht ihn so wertvoll.
Volles Risiko: Zur makroökonomischen Politik unter der großen Koalition
Verteilungspolitik, soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftskrise
Auf dem Prüfstand: Niedriglöhne - Kombilöhne - Mindestlöhne
Staat als Partner: Deutsche wohlfahrtsstaatliche Perspektiven im Lichte skandinavischer Erfahrungen
Sachzwang oder Mythos? Über die Folgen der demographischen Entwicklung in Deutschland
Konstante Rentenpolitik: Von der rot-grünen Regierung zur großen Koalition
Die Gesundheitspolitik der großen Koalition: Systemwechsel in der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung?
Perspektiven der Pflegeversicherung: Kapitaldeckung oder solidarische Finanzierung der Pflegebedürftigkeit
Bildung: Die soziale Frage des 21.Jahrhunderts