"Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft" · Band 24
260 Seiten
29,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-89518-941-8
(September 2012)
Ein Produkt von Wirtschaftskrisen ist gewiss: das Interesse an Marx steigt dann immer messbar an. Dieser Band versteht sich als vielfältiges Diskursangebot. Er will wieder einmal neugierig machen auf den großen, aber alles andere als immer leicht zu verstehenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Marx, ohne deshalb auf Aktualisierungen und eine Interpretation seiner Folgewirkungen zu verzichten. Er ist Ergebnis einer Auswahl überarbeiteter Vorträge, die auf der Herbsttagung 2011 des Arbeitskreises Politische Ökonomie in der Marxgeburtsstadt Trier gehalten wurden. Dem breit angelegten Aufruf der Tagung entsprechend wurden in Trier zahlreiche, stimulierende Vorträge gehalten, die hier so ausgewählt sind, dass eine repräsentative thematische Auffächerung und ein interessanter Zugang gesichert sind.
Zeitdiagnostische Anwendungen
Hauke BrunkhorstWertorientierte Ökonomie
Utz-Peter Reich(Kon)Text und Wirkung
Walter Otto ÖtschGesellschaftsanalyse als Kritik
Alexander Neupert"Eröffnet wird das Buch mit einem inspirierenden Text von Hauke Brunkhorst. Unter dem Titel "Von der Krise zum Risiko und zurück" wird der Frage nachgegangen, welche wissenschaftliche wie gesellschaftliche Relevanz die zu beobachtende Tatsache habe, dass heute in den Sozialwissenschaften und in der politischen Praxis eine Ablösung des Krisenparadigmas, das zentral für das auf Marx abstellende Forschungsprogramm ökonomischer Theorie ist, durch das des Risikos erfolge. In Auseinandersetzung insbesondere mit Niklas Luhmann arbeitet der Autor schlüssig heraus, dass Krisen entscheidend in strukturellen Konstellationen der kapitalistischen Produktionsweise wurzeln. Sie sind mit Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung verbunden und werden als Systemprobleme manifest. Hingegen würden aus der Perspektive des Risikoparadigmas die Vernachlässigung und Missachtung des Individuums in der Gesellschaft, die Exklusion großer Menschengruppen an den Peripherien der Weltgesellschaft sowie die technischen Zerstörungspotentiale der globalisierten Welt die eigentlichen Probleme moderner Gesellschaften konstituieren, kurz: die Risiken. Sie verlangen nach einer Minimierung, im Grunde nach einem effizienten Risikomanagement, doch dieses "braucht weder Gewerkschaften noch Sozialisten noch Demokraten", dafür vor allem "clevere Experten, flexible Ethikkommissare und geschäftige Evaluationsmanager" (17). Zu Recht stellt Brunkhorst fest: "Im Unterschied zum Risikoparadigma geht das der Krise nach wie vor von einem inneren Zusammenhang zwischen technischen und normativen Problemen, zwischen System- und Klassenbildung aus. Das ist der Kern der marxistischen Krisentheorie". (20).
Im Abschnitt "Wertorientierte Ökonomie" beschäftigt sich Utz-Peter Reich anhand von Ware, Geld und Mehrwert mit einem in den verschiedenen Stadien der Marx-Rezeption immer wieder aufgerufenen Thema, der "Modernität des Marxschen Wertbegriffs". Anders formuliert, zur Debatte steht die Allgemeingültigkeit der von Marx innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie vertretenen objektiven Arbeitswertlehre, also die Fruchtbarkeit der mit diesem Theorietypus gewonnenen Erkenntnisse für die verschiedenen Forschungsprogramme des Theorietypus Economics/Volkswirtschaftslehre. Reich will seinen Text als einen ernsthaften "Versuch" verstanden wissen, unter Nutzung der modernen Mathematik einen Beitrag zur Integration der Substanz von Marx' Werttheorie in die zeitgenössische Wirtschaftstheorie zu leisten. Die "Praxis der Messung und Erhebung von wirtschaftlichen Werten als 'Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung'" (VGR) (90) liefert ihm das entsprechende Referenzsystem. In den Prinzipien der modernen VGR (97 ff.) findet Reich eine Reihe durchaus bedenkenswerter Argumente für seine These der "inhaltliche(n) Gemeinsamkeiten" (107) zwischen Essentials von Marx' Wertkonzept und Grundgedanken heutiger VGR. Das "Neue" in seinem Vorgehen sieht er vor allem in der empirischen Verifizierung der Axiome konkurrierender Wertkonzepte, der neoklassischen, mikroökonomisch fundierten Wertlehre sowie der makroökonomisch angelegten Arbeitswerttheorie von Marx. Reichs bemerkenswerte Erkenntnis ist schließlich, "dass mehr Marxsches Gedankengut in diesem empirischen Regelwerk [der VGR - G.K.] zu finden ist, als die heute fremde Marxsche Terminologie zunächst vermuten lässt", was "ein nachträglicher Beleg für die Richtigkeit dieses Blicks auf die Wirtschaftsrealität" sei (ebd.).
Aufmerksamkeit verdient auch der Aufsatz von Ulrich Busch über "Die ökonomische Theorie von Marx und die Irrtümer der DDR". Im Abschnitt "(Kon)Text und Wirkung" widmet sich Busch am Beispiel der DDR der von vielen Widersprüchen geprägten Rezeption von Marx im Staatssozialismus, dem komplizierten Verhältnis zwischen seinen ökonomische Reflexionen über eine nachkapitalistische Gesellschaft und ihrer Übernahme in Theorie und Praxis der Zentralplanökonomie. Ausgehend vom divergenten Niveau tiefgründiger Charakteristik der kapitalistischen Produktionsweise auf der einen und den mehr skizzenhaften Vorstellungen über eine nachkapitalistische Ökonomie auf der anderen Seite demonstriert Busch stringent anhand der Beispiele "Historischer Platz des Sozialismus", "Eigentum und Vergesellschaftung" sowie "Warenproduktion und Ware-Geld-Beziehungen" Facetten des Umgangs mit Marx in der DDR. Treffend arbeitet er dabei die scholastische Auslegung von Marx heraus, die sowohl zu einer "theoretisch einseitigen und zunehmend sterilen Interpretation der sozialökonomischen Realität des Sozialismus" führte, als auch die "realistische Beurteilung aktueller Problemlagen und deren wirksame Lösung" behinderte (187). Busch macht deutlich, dass einerseits die von Marx gegebenen Orientierungen zur Entwicklung der Ökonomie einer neuen Gesellschaft viele Fragen offen ließen, teils für Irritationen sorgten und nicht wenige Fehlentwicklungen begünstigten (vgl. 201). Andererseits hat es die SED "auch nicht vermocht, den Reichtum der Ideen von Marx" für die Gestaltung einer neuen Wirtschaft und Gesellschaft in der DDR "schöpferisch umzusetzen" (ebd.). Das Scheitern des Staatssozialismus "ist insofern gleichermaßen" - so das Fazit des Autors - "auf ein zu viel Marx wie ein zu wenig Marx zurückzuführen" (ebd.).
Im Abschnitt "Gesellschaftsanalyse als Kritik" schreibt Anna-Maria Schönfelder über "Mangel inmitten von Überfluss. Reichtum und Herrschaft in Karl Marx' Kritik der politischen Ökonomie". Sie konzentriert sich unter Aufnahme verschiedener Marxscher Analysen zu Wesen und Erscheinungsformen des Reichtums generell wie jenes in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem auf den Beleg der These, "dass seine Kritik der politischen Ökonomie von dem Anspruch einer revolutionären Umwälzung der Gesellschaft durchzogen ist" (241). Interesse weckt, dass die Autorin bei der Behandlung des Wesens des Reichtums auf die schon seit langem bestehende enge Beziehung zwischen den Begriffen "Reichtum" und "Herrschaft" aufmerksam macht und dabei auch das Problem der "vermittelten Herrschaft" thematisiert. Sie hebt hervor: "Dass diese Beziehung zwischen beiden Begriffen heute nicht mehr offensichtlich ist, verschleiert den immer noch bestehenden Sachverhalt, dass Reichtum Herrschaft vermittelt und Herrschaft Reichtum verschafft" (242). Besonderes Augenmerk wird auf den Nachweis gelegt, dass es das wissenschaftliche Verdienst von Marx' Kritik der politischen Ökonomie ist, die verschiedenen Formen des bürgerlichen Reichtums decodiert und dabei insbesondere die vermittelnde Rolle des Wertes aufgedeckt zu haben. Gerade mit dem Paradigma der Äquivalenz, das mit dem Wert gesetzt wird, bekommt Herrschaft "den Anschein, Armut und Reichtum gehörten nicht länger zu ihren Kennzeichen", beruhe vielmehr auf "einem Gleichheitsverhältnis unter den Menschen" (245).
Unabhängig von der individuellen Themenwahl sowie ungeachtet der unterschiedlichen Diktionen der Autoren zeichnen sich die Beiträge des Buches durch souveräne Kenntnis der jeweils behandelten Materie wie der entsprechenden Literatur aus. Sie weisen einen hohen Problemgehalt auf und mehrheitlich einen produktiven Umgang mit den in Marx' Werk enthaltenen Fragestellungen. Historische Erkenntnisschranken bei Marx werden weitgehend überzeugend behandelt und seine Forschungsperspektiven auf zeitgemäße Weise geprüft und erweitert. In diesem Kontext ergibt sich allerdings die Frage, ob die Herausgeber angesichts des formulierten Anspruchs - "Karl Marx neu verhandelt" - nicht gut daran getan hätten, für die Anlage der Beiträge einige Orientierungspunkte, gewissermaßen als "Vorgaben", für die Behandlung von Neuem zu benennen."
Von der Krise zum Risiko und zurück
Die ökonomische Theorie von Marx und die Irrtümer der DDR
Marx, Kritik und Säkularität
Kapitalistischer Kommunismus
Es rettet uns kein höh’res Wesen
Der reduzierte Marx oder: Die Form des Kapitals
Der prozessierende Widerspruch
Politische Ökonomie und Gesellschaft
Wo Marx Recht hat
Mangel inmitten von Überfluss
Vom Abstrakten zum konkreten „historischen Milieu“
Der Wert bei Marx, die gesellschaftlichen Räume und Bilder und der ‚postmaterialistisch‘ erneuerte Kapitalismus
Ware, Geld und Mehrwert