492 Seiten
34,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-7316-1325-1
(25. April 2018)
Hardcover, Fadenheftung
Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx geboren. Der 5. Mai 2018 ist als 200. Geburtstag also ein Datum, zu dem es den nach wie vor populärsten Kritiker dessen, was wir als Kapitalismus bezeichnen, und einen ebenso großen wie umstrittenen Denker, Publizisten und auch Politiker zu würdigen gilt. Die Herausgeber dieses Buches haben die versammelten Autoren aus diesem Anlass zu einer theoretischen (und praktisch bedeutsamen) Frage eingeladen, die den Kern der Marxschen Theorie und Kapitalismuskritik betrifft: Was ist eigentlich das Ökonomische?
Das zielt auf die gesellschaftliche Imagination des Ökonomischen (Cornelius Castoriadis) unter den besonderen Bedingungen des Kapitalismus wie auf die Frage, wie jenseits davon eigentlich die Beziehungen zwischen dem Ökonomischen und dem darüber hinausgreifenden Gesellschaftlichen verstanden werden sollten.
Die Zusammenführung ganz verschiedener Autoren verbindet sehr unterschiedliche Zugänge zu dieser Frage zu einem informativen und vielseitigen Ganzen. Umso besser, um Verhältnissen zu entrinnen, in denen ökonomische Kalküle über unser Leben bestimmen.
"Es ist ein Spezifikum der an Marx orientierten Analysen in den Sozialwissenschaften, zu fragen, wie Entwicklungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mit ökonomischen Dynamiken im engeren Sinne vermittelt sind. In der hochspezialisierten Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen und nicht zuletzt angesichts der Dominanz einer abstrakten und mathematisierten neoklassischen Ökonomie führt dies immer wieder zum Vorwurf eines ideologisierten Dilettantismus gegen Versuche, ökonomische Erkenntnisse und Konzepte in sozialwissenschaftliche Analysen einzubeziehen. Da aber marxistische Theoriebildung in den Sozialwissenschaften wesentlich auf inter- und transdisziplinären Debatten fußt, ist eben auch die Rezeption und Auseinandersetzung mit aktuellen marxistischen Debatten in der Ökonomie für die Erneuerung marxistischer Theoriebildung und Forschungsstrategien von zentraler Bedeutung. Der von Rainer Lucas, Reinhard Pfriem und Claus Thomasberger herausgegebene Band "Auf der Suche nach dem Ökonomischen - Karl Marx zum 200. Geburtstag" leistet dazu trotz mancher disziplinbedingter Sperrigkeiten (Formelwüsten in manchen Aufsätzen) für sozialwissenschaftliche Rezipient*innen einen interessanten Beitrag. Dies hat damit zu tun, dass es das gemeinsame Thema der in diesem Band versammelten Autoren ist (es gibt nur bei einem Aufsatz zwei (studentische) Ko-Autorinnen), anhand der Rekonstruktion marxistischer Begrifflichkeiten und Problemstellungen den gesellschaftlichen Charakter der kapitalistischen Ökonomie und ihrer gegenwärtigen Entwicklungen gegen die abstrakte, entgesellschaftlichte Modelllogik neoklassischer Wirtschaftsmodelle herauszuarbeiten. Sie öffnen damit einen epistemologischen Raum für die oben diskutierten sozialwissenschaftlichen Debatten marxistischer und feministischer Provenienz, da sie damit dem "ökonomischen Imperialismus" erstens den Boden unter den Füßen wegziehen und zweitens die Frage nach der gesellschaftlichen Gestaltbarkeit "des Ökonomischen" (Thomasberger) öffnen. Durch den gesellschaftstheoretisch fundierten Blick auf das Ökonomische werden die "Objektivationen" (Thomasberger: 187f.) der neoklassischen Modelle, die ökonomische Dynamiken im Kapitalismus als Naturgesetze erscheinen lassen, als historisch und geographisch spezifische Struktur des "Ökonomischen" verstehbar, das als von der Gesellschaft getrennt erscheint. Dadurch können auch Probleme wie soziale Ungleichheit und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft auf ökonomische Strukturen bezogen oder die ökologischen Auswirkungen einer auf permanentes Wachstum ausgerichteten Ökonomie in den Blick genommen werden."
Gleichzeitig wird hier aber eine Begrenzung der Diskussionen dieses Bandes sichtbar, da diese nicht oder nur sehr wenig auf die soziologischen oder feministischen Debatten zu verschiedenen Feldern Bezug nehmen. Eine derartige Herangehensweise hätte aber ihre gesellschaftstheoretische Fundierung stärken und den Blick auf die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse vertiefen können. Es ist trotzdem eine Stärke einiger Aufsätze dieses Bandes, explizit die Frage nach den Perspektiven für eine nachkapitalistische Gesellschaft und der damit verbundenen Transformation des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Ökonomie aufzuwerfen. Dies ist aber, wie Thomasberger zeigt, ein höchst voraussetzungsvolles Problem, das Marx zwar erkannt, in seinen Vorstellungen zur Veränderung der Gesellschaft jedoch nicht umfassend diskutiert habe. Das "ökonomische Problem", so Thomasberger, besteht demnach in der Frage, wie die "Integration der verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten" und die dafür notwendigen "Entscheidungen über Produktion, Verteilung und Verwendung" (Thomasberger: 201) getroffen werden. "Wer entscheidet? Auf Basis welcher Informationen? Und nach welchen Gesichtspunkten" (ebd.).
Dieses Problem werde aber, so Thomasberger weiter, unter kapitalistischen Bedingungen auf ein Informations- und Koordinationsproblem reduziert, das die Lösung über Wettbewerb voraussetzt (ebd.). Marx habe demgegenüber herausgearbeitet, dass eine "grundlegende sozioökologische Transformation der Gesellschaft nur erfolgreich sein kann, wenn das ökonomische Problem in einer komplexen Gesellschaft durch eine neue Form der 'Übereinkunft' gelöst wird" (Thomasberger: 217). Thomasberger bleibt insgesamt zwar eine konkrete Antwort schuldig, er betont aber, dass es verschiedene Antworten geben kann. Der zentrale Punkt seiner Argumentation besteht sicher darin, die Auseinandersetzung mit Marx nochmal auf die Frage zu beziehen, wie eine bewusste, vernünftige und gesellschaftliche Gestaltung des "ökonomischen Problems" in komplexen Gesellschaften jenseits des Marktes aussehen könnte."
Die AutorInnen des Sammelbandes "beleuchten vielmehr unterschiedliche Aspekte des Marx'schen Werkes, oft aus der Perspektive des jeweiligen Forschungsfeldes, und die Beiträge sind daher nicht nur durch eine Vielfalt der Themen und Einschätzungen, sondern auch durch eine unterschiedliche Nähe zu Marx'schen Fragestellungen geprägt. Hinzu kommt, dass die AutorInnen sich unterschiedlich intensiv mit Marx auseinandergesetzt haben, der gelegentlich eher als Stichwortgeber denn als zentraler Diskussionsgegenstand erscheint. Die Herausgeber versuchen, diese Vielfalt durch Einordnung von Marx zu den Themenfeldern »Ökonomie und Ökonomik«, »Ökonomie und Gesellschaft« und »Ökonomie und die zukünftige Gesellschaft« zu gliedern, wohl wissend, dass sowohl sein Werk als auch die Eigenart der einzelnen Beiträge eine solche Unterteilung schwierig machen. Dem Band ist eine große Leserschaft zu wünschen, die die Vielzahl und Vielfalt der hier gegebenen Anregungen und Verknüpfungen produktiv aufzunehmen weiß.
"In einem ersten Teil, "Marx, die Ökonomie und die Ökonomik", setzen sie einen theoriegeschichtlichen Schwerpunkt, der aber zugleich auf die heutige Ökonomik verweist. Hans A. Frambach widmet sich dabei der Erklärung von wirtschaftlicher Entwicklung bei Marx, den er "als einer der größten Denker der Nationalökonomie" (S. 39) einstuft, und findet gute Argumente für die Vermutung, "dass die Ökonomie, der wahrscheinlich wichtigste Regulator im steten Wechsel von Stabilität und Instabilität, auch den Wandel von Gesellschaften maßgeblich begründet und somit, mit Karl Marx, das Ökonomische, das Materielle als die zentrale Größe von Wandel wahrgenommen wird" (S. 40). Nun war ja der Streit zwischen der Bedeutung des "Materiellen" im Verhältnis zum "Ideellen" zu Zeiten von Marx (und Engels) besonders virulent, und man wundert sich ein wenig, dass der Autor mit keinem Wort auf einen wichtigen, weil weiterführenden späteren Diskussionsbeitrag von Max Weber in seiner "Ethik der Weltreligionen" eingeht: "Interessen (materielle und immaterielle), nicht Ideen bestimmen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch diese ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte." Hier findet man, so scheint es mir, einen bisher zu wenig genutzten Anknüpfungspunkt für eine nicht nur von Marx, sondern auch von Weber inspirierte Entwicklungstheorie und -forschung, der - dialektisch gesprochen - eine interessante Synthese für die Interaktion dieser Einflussfaktoren eröffnet.
Zu den ökonomietheoretischen Beiträgen des ersten Teils gehören neben dem bereits erwähnten theoriegeschichtlich fundierten Beitrag von Heinz D. Kurz zur "Unsichtbaren Hand" zwei interessante mathematische Rekonstruktionen Marx'scher Theoreme: Frank Beckenbach zeigt die mangelnde Geschlossenheit und die Unvollständigkeit Marx'scher Aussagensysteme auf, und Bertram Schefold skizziert eine neue Lösung des Transformationsproblems, orientiert am Werk von Piero Sraffa.
Im letzten Beitrag untersucht Helge Peukert die Bedeutung der Marx'schen Theorie aus pluralistischer Sicht: Das Transformationsproblem ist ihm nur wegen der Verteilung als freie, nicht schon vollständig durch Marktkräfte determinierte Variable bedeutungsvoll, wichtig ist ihm dagegen die Notwendigkeit einer breiten gesellschaft(swissenschaft)lichen Fundierung mikro- und makroökonomischer Prozesse, die er in der Standardökonomik vermisst und in verschiedenen Marx'schen Ansätzen zumindest angedeutet findet. Anhand von insgesamt 32 Dichotomien skizziert er die Umrisse einer heterodoxen Position, die vorhandene Kritik an der ökonomischen Orthodoxie nicht nur benennt, sondern auch zu einer Überwindung bestehender Engführungen beiträgt. In einem derartigen Kontext sind Marx'sche Überlegungen - gerade auch die nicht abgeschlossenen und nicht vollkommen konsistenten - von großem Interesse, aber keine ausschließlichen Erkenntnisquellen, sondern ergänzungsbedürftig durch soziologische, politikwissenschaftliche und sozialethische Beiträge unterschiedlicher Provenienz, nicht zuletzt durch einen kritisch rezipierten Institutionalismus jenseits heute gängiger, meist oberflächlicher Transaktionsanalysen.
Der zweite Teil des Sammelbandes ist den Beziehungen zwischen "Marx, Ökonomie und Gesellschaft" gewidmet. Claus Thomasberger erkennt bei Marx zwei entgegengesetzte Thesen, die beide auf Überwindung der Konkurrenz durch Übereinkunft setzen, nämlich zum einen durch die wachsende Koalitionsmacht der Arbeiter, der diese zu einem handlungsfähigen Akteur, zur "Klasse an sich" mache, und zum anderen durch die angenommene Fortgeltung des "ehernen Lohngesetzes", die Marx' Spätwerk einen "ökonomisch-deterministischen Bias" (S. 211) aufpräge. Die liberale Politische Ökonomie seiner Zeit sei demgegenüber weniger Rechtfertigung der bestehenden als vielmehr Utopie einer künftigen freiheitlichen Ordnung gewesen. Die dritte, später in der Realität besonders wirkungsmächtige Alternative einer Zähmung des Marktsystems durch den Kampf um politische Reformen habe Marx nicht hinreichend in Betracht gezogen. Thomasberger skizziert aus den Erfahrungen der letzten 150 Jahre eine "sozialliberale Strategie" (vgl. S. 215), die für die künftigen Herausforderungen nicht mehr unbedingt auf eine universelle Lösung setzt, sondern eher eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten in den Blick nimmt. Ihm zufolge hat Marx hat uns die Aufgabe hinterlassen, die Suche nach "einer gerechteren, menschlicheren und nachhaltigeren Welt" (S. 218) weiterzuführen.
Ähnlich argumentiert Lars Hochmann in Auseinandersetzung mit gängigen ökonomischen Auffassungen für ein "Vordenken möglicher Entwicklungspfade" auf der Grundlage von "Nachdenken über die wirklichen Verhältnisse" (S. 247). Wie das aussehen könnte, illustriert Reinhard Pfriem, der "Die nachökonomische Gesellschaft als reale Utopie" skizziert. Er sieht in der weiter dominierenden Erwerbskunst, der aristotelischen "Chrematistik", eine Grundtendenz zur Schaffung von materiellem Reichtum auf Kosten anderer, nicht zuletzt der Natur. Die notwendige Aufhebung des Ökonomischen stellt sich demnach als kulturelle und praktische Aufgabe dar: "als Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Hemmnissen wirklicher Akteure in der wirklichen Welt, ihre kulturellen Praktiken, darunter ihre ökonomischen, zu verändern" (S. 280). Den Missbrauch des Marx'schen Werkes als quasi "heilige Schriften" im "realen Sozialismus" kritisierend und zugleich auf die Realität und Brutalität realer Wirtschaftskrisen im Kapitalismus verweisend plädiert sodann Raul Zelik für eine erneute und kreative Befassung mit der Methode von Marx, mithin "für eine Absetzbewegung von der Absetzbewegung" (S. 308).
Wie nun konkret eine Inanspruchnahme Marx'schen Denkens in einem abgegrenzten Handlungsfeld aussehen kann, das untersucht Rainer Lucas am Beispiel der Stadt- und Regionalentwicklung, wobei es ihm generell um die "Inwertsetzung räumlicher Strukturen" geht. Deren kapitalistische Ausprägung sieht er anhand Marx' Analyse des relativen Mehrwerts durch die Merkmale Kooperation zur Steigerung der Produktivkraft der Arbeit, Arbeitsteilung und -vereinigung, Konzentration sowie relative Zunahme des konstanten Kapitals bestimmt. Die fortwährende Ausdehnung der Märkte, ein "raumgreifender Prozess", führt schließlich zu einem durch Ungleichgewichte in verschiedenen Bereichen von Produktion und Konsum, z. B. in der Wohnraumversorgung, geprägten Weltmarkt. Die Sichtung verschiedener "Handlungsansätze zwischen grundsätzlicher Systemkritik, evolutorischer Transformation und Inkrementalismus" (S. 331) leitet über zur Darstellung eines "perspektivischen Inkrementalismus" (S. 335), den er als "soziale Innovation" begreift. An die Stelle einer abstrakten Transformationsperspektive tritt die sozial verantwortliche Lebenspraxis der Menschen selbst, deren Verhalten gegenüber anderen Menschen und der Mitwelt eine Relativierung des Ökonomischen und eine Offenheit für eine Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe zur Erkundung eines solchen Weges erfordert. Der "perspektivische Inkrementalismus" ist daher für Lucas nicht nur zur Überwindung theoretisch-mechanistischer Engführungen hilfreich, sondern auch für konkrete Projektentwicklungen und darüber hinaus auch für die individuelle Lebensführung selbst tauglich (vgl. S. 337).
Eine Autor(inn)engruppe des Wuppertal Instituts, darunter dessen Präsident Uwe Schneidewind, schlägt in dem Beitrag "Von der Deep Treadmill zur alternativen Stadtökonomie" eine Brücke von marxistischen Überakkumulationstheorien zum heutigen Suffizienz-und Postwachstumsdiskurs. Allerdings erfolgt die Bezugnahme auf Marx, trotz einiger Zitate und Literaturangaben, eher indirekt durch Weiterentwicklung des vom kanadischen Universitätslehrer Éric Pineault entwickelten "Deep Treadmill"-Ansatzes zur Erklärung von Wachstum und Überakkumulation in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, der seinerseits eine Interpretation und Weiterentwicklung Marx'scher Überlegungen für den Kapitalismus seiner Zeit darstellt. Den generellen Marx'schen Kapitalismus-Imperativ "Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!" (MEW 23, S. 621) nehmen die Autor(innen) indirekt auf, indem sie nicht nur nach der Logik des kapitalistischen Akkumulations- und Wachstumszwanges unter den gegenwärtigen Bedingungen, also der immanenten Tretmühle des fortgeschrittenen Kapitalismus, fragen, sondern auch nach Möglichkeiten des Ausstieges, etwa durch Verallgemeinerung urbaner Suffizienz, suchen; sie verstehen ihre "Treadmill"- Überlegungen vor allem als "Ermunterung für eine kapitalismuskritisch aufgeklärte Nachhaltigkeitsforschung" (S. 365), die zunächst zu prüfen hätte, wie tragfähig dieser Ansatz für die Analyse von Suffizienz ist. Bei einem solchen Rückgriff auf Marx'sches Gedankengut dürfte der generelle Gedanke der zerstörerischen Dynamik einer ungezähmten kapitalistischen Dynamik vermutlich hilfreicher sein als eine allfällige Exegese vieler einschlägiger Textstellen zu Akkumulation und Wachstum, denn gerade in diesem Feld gilt Joan Robinsons Warnung in besonderer Weise: "Die Wasser sind dunkel, und es kann sein, dass jeder, der hineinschaut, sein eigenes Gesicht sieht." ...
Die Beiträge des Sammelbandes geben in oft unterschiedlicher Weise interessante Anregungen für die gegenwärtige Diskussion zu Suffizienz und Nachhaltigkeit. Es bleibt allerdings eine ungelöste Schlussfrage nach dem Grund dafür, dass es so wenig geschlossene Darstellungen von Marx' ökonomischer Theorie gegenüber einer immer noch beeindruckenden Vielzahl von Beiträgen zu einzelnen Aspekten seines Werkes gibt. Ein Grund dafür ist die große Zahl der von Marx behandelten Fragestellungen. Aber zwei weitere Gründe dürften ebenso wirksam und problematisch sein: Zum einen ist die Unabgeschlossenheit und der unterschiedliche "Reifegrad" der von ihm hinterlassenen und später posthum edierten Überlegungen ein Grund für bis heute kontroverse Auseinandersetzungen, die eher irgendeiner Art von Marx-Orthodoxie als gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis Vorschub leisten, und zum anderen die bewusste Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit und Vagheit vieler Aussagen auch in den von Marx für publikationsreif gehaltenen Texten, z.B. dem I. Buch des "Kapital", die gerne mit Begriffen wie "dialektischer Widerspruch" überspielt und so zu Anlässen einer quasi-theologischen Marx-Exegese werden (können). "Dialektik" wird dann nicht, wie bei Hegel zu einer anspruchsvollen philosophischen Methode, sondern eher zu einem schönen Obergriff, hinter dem sich oft genug nicht zu Ende Gedachtes auf Dauer zu verstecken sucht. Die Attraktion, aber auch Verführungskraft der oft zugleich polemischen und poetischen Sprache von Karl Marx tut ein Übriges zur Schwierigkeit einer adäquaten Rezeption, denn er selbst erliegt nicht selten den Fallstricken seiner eigenen schönen und wortmächtigen Formulierungen, die ihm doch nur vordergründig das weitere Nachdenken ersparen, jedoch den späteren Leser in die Irre führen können. Marx kommt zwar auf diesem Wege auch intuitiv zu wichtigen Einsichten über die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise, aber er versäumt dann oft, ihre Tragfähigkeit im Einzelnen zu überprüfen. Die vermutete Kohärenz einer Annahme, etwa über den Kapitalismus, führt eben noch nicht zu ihrer empirischen Stimmigkeit.""Der Relevanz von Marx als Ökonom widmet sich der umfangreiche Sammelband von Lucas, Pfriem und Thomasberger. In ihrer Einleitung halten die Herausgeber fest, Ziel des Bandes sei, "konkrete Erkenntnisse zu gewinnen und Lehren zu ziehen für die Kritik und Veränderung dessen, was wir immer noch als Kapitalismus bezeichnen". Seit einigen Jahren habe sich der Begriff "Große Transformation" entwickelt, dem aber noch jegliche gesellschaftstheoretische Fundierung fehle. Die Autorinnen der fünfzehn Beiträge gehen der Frage nach der Marxschen Aktualität mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen aber gleichermaßen großem Respekt gegenüber dem ökonomischen Denker Marx nach.
Hans A. Frambach ordnet Marx Werk als ein im Wesentlichen philosophisches ein, das Ökonomie nur als einen Teil des gesellschaftlichen Lebens begreife. Mehrere Beiträge widmen sich der Arbeitswertlehre und dem "Transformationsproblem" der Werte in Preise bei und im Anschluss an Marx, wobei Frank Beckenbach die Möglichkeit, hier mit Marx weiterzudenken kritisch, Bertram Schefold im Ergebnis eher offen diskutiert. Claus Thomasberger widmet sich "Marx Beitrag zu einer transformativen Wissenschaft", der u.a. in zwei "epochalen Entdeckungen" bestanden habe: "das ökonomische Problem in einer komplexen Gesellschaft" und die Erkenntnis, dass "die bürgerliche Antwort auf dieses Problem die Ursache der Verkehrung ist, die die Menschen zu Gefangenen der Ergebnisse ihrer eigenen Handlungen" mache. Marx Oeuvre erscheine als lebenslanger, letztendlich unvollendeter Versuch, neue, die Verkehrung vermeidende Antworten auf das ökonomische Ausgangsproblem zu finden. Die Gesetze der Wirtschaft seien weder Naturgesetze noch juristische Gesetze. Rainer Lucas und ein Autorinnenteam um Uwe Schneidewind versuchen Stadt- und Regionalentwicklung mit Marxschen Themen zu verbinden. Burghard Flieger entwickelt aus dem Marxschen Werk einen positiven Zugang zu Produktionsgenossenschaften.
"Das Buch soll, nach dem Geleitwort der Herausgeber, Karl Marx anlässlich seines 200. Geburtstags würdigen, indem kritisch darüber reflektiert wird, was mit seinem Werk heutzutage noch anzufangen ist, insbesondere unter dem inhaltlich sehr spezifischen Aspekt der Nachhaltigkeit und eines erst zu schaffenden guten Lebens (S. 12). Dazu begeben sich 21 Autoren auf die Suche nach dem ökonomischen, womit über den Kapitalismus hinausreichende Verhältnisse gemeint sind (S. 13), Verhältnisse, die wohl als Fluchtpunkt für die programmatische Veränderung des Kapitalismus dienen sollen.
Das nicht ganz sinnfällig dreigeteilte Buch versammelt Aufsätze, die sich an der von Marx vorgenommenen Kritik der Politischen Ökonomie orientieren und je nach Autor eine mehr oder weniger tiefschürfende theoriehistorische Expertise preisgeben. Ein weiteres Merkmal ist die Ausrichtung auf die Überwindung der Grenzen der herkömmlichen Ökonomie und ihres Verständnisses. Unter diesem Aspekt dient Marx mitunter als mehr oder weniger willkürlich gesetzter Referenzpunkt, um rasch zu eigenen Visionen Vordringen zu können. Daneben ist der Fokus auf eine Kontrastierung der Marxschen Theorie und ihrer orthodoxen Interpretation zu den eigens angestellten Überlegungen charakteristisch. ...
Ob der Band eine gelungene Würdigung darstellt, wird im Urteil des Lesers vermutlich stark variieren. So verschieden wie die Referenzpunkte zu Marx gewählt wurden, so unterschiedlich sind auch die Pfade der Suche nach dem Ökonomischen betreten worden. Mitunter haben sie zu direkt gegensätzlichen Aussagen zwischen den einzelnen Autoren geführt. Wenn Marx selbst daran Gefallen gefunden hätte, dann vermutlich wegen des kritischen Geistes, der in (fast) allen Beiträgen entdeckt werden kann.
"Ein polyphones Geburtstagsständchen"
"Die Beiträge sind lesbar geschrieben, so dass die behandelten, teilweise verwickelten theoretischen Fragen informierten LeserInnen (und an diese richtet sich das Buch) ein gutes Bild der Positionen der AutorInnen liefern. Der Band ist mit seinen drei Teilen zu "Marx, die Ökonomie und die Ökonomik", "Marx, Ökonomie und Gesellschaft" sowie "Marx, Ökonomie und die zukünftige Gesellschaft" klar gegliedert. Obwohl dies dazu verführen könnte, sich nur auf den Abschnitt des eigenen Interesses zu konzentrieren, empfiehlt der Rezensent eine konsequente Lektüre vom Anfang bis zum Ende. Denn, ob Absicht oder nicht, das Buch gewinnt seine Aussagekraft vor allem als "Gesamtkunstwerk", als "polyphone Komposition". Es ist nicht unbedingt zu erwarten, dass in einem Band die Synthese von Autoren aus dem etablierten akademischen Feld (wie sie vor allem im ersten Teil zu Wort kommen) und solche aus dem eher aktivistischen (Raul Zelik) oder praktisch-ökonomischen (Burghard Flieger) funktioniert. Hier ist dies der Fall, auch wenn bzw. eben weil die Beiträge durchaus unterschiedliche Sichtarten auf das Erbe Marx' repräsentieren.
... Insofern ist die "Suche nach dem Ökonomischen" hier vor allem die Suche nach einem zukunftsfähigen und realitätstauglichen wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Ansatz. Die AutorInnen schreiben dementsprechend nicht aus der Position einer tradierten Marx-Rezeption, sondern (in ihrer Mehrzahl) aus der kritischer, bürgerlich-liberaler Geister. Die Mehrzahl der AutorInnen steht in einer Tradition, die vor allem das analytische Potenzial bei Marx hervorhebt, oder, wie Peukert es ausdrückt, die bei Marx aufzufindende "abgerundete Gesamtdeutung von Mensch, Wirtschaft und Gesellschaft" (Marx allerdings lehnte einen solchen universalgeschichtlichen Anspruch ab).
Mit dem Beitrag von Helge Peukert zur marxschen Theorie als unentbehrlicher pluraler Bestandteil für die Volkswirtschaftslehre erhalten aber auch die Beiträge, denen der Rezensent eher kritisch gegenübersteht, ihren Wert. Peukert spannt den Bogen von der Theorie in die universitäre Lehre und eröffnet damit den Raum hin zur Diskussion der praktischen Relevanz des marxschen Erbes. Macht schon das Aufgreifen marxscher Ansätze und ihre kritische Nutzung als Instrument der Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft die Aufsätze für MarxistInnen interessant, weil das zur Prüfung eigener Auffassungen provoziert und auch immer auf die "Unabgeschlossenheit" des marxschen Projektes verweist, so wird hier das ganz praktische Problem der "ökonomischen Alphabetisierung" thematisiert. Sein Plädoyer für einen heterodoxen Ansatz in den Wirtschaftswissenschaften bildet das "Scharnier" zwischen den eher theoretisch-methodologisch und den eher praktisch orientierten, auf heutige Widerspruchskonstellationen eingehenden Beiträgen des Bandes. Die Beiträge dieses Teils folgen dem (richtigen, aber auch etwas apodiktischen) Hinweis von Thomasberger, dass es die Fragestellungen, nicht die Antworten sind, die das Werk Marx' für Diskussionen über eine grundlegende gesellschaftliche Transformation fruchtbar machen. Diesem Ansatz folgend werden Fragen einer "realen Utopie", der Analyse der urbanen Entwicklungen und ihres Zusammenhanges mit aktuellen Krisenprozessen oder die Rolle von Genossenschaften diskutiert. Nur scheinbar passt Brie mit seinen Betrachtungen zum "Kapital" als "Zukunftswissenschaft zu praktischen Zwecken" nicht in diese Reihe. Tatsächlich greift er aber theoretische Fragestellungen der vorhergehenden Beiträge auf und diskutiert sie unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich dem des marxschen Forschungsprogramms und der in ihm angelegten Einheit von Theorie und Praxis sowie den Wechselwirkungen von Methode, Gegenstand und Resultaten des Forschungsprozesses.
So erweist sich die Lektüre des Bandes als lohnenswert für alle, die mit Marx weiterdenken und -handeln wollen."
"Wie sollten im Anschluss an Marx die Beziehungen zwischen dem Ökonomischen und dem darüber hinausgreifenden Gesellschaftlichen verstanden werden? Nach Auffassung der Herausgeber wird dieses spannende Feld von der gegenwärtigen Soziologie weitestgehend ignoriert. Aus ihrer Sicht ist es deshalb an der Zeit, sich aus ökonomischer Perspektive dieser Herausforderung zu stellen.
Freie Entwicklung des Einzelnen
Die einzelnen Autoren verfolgen sehr unterschiedliche Zugänge. Den Herausgebern gelingt aber die Bündelung des Themas zu einem informativen und vielseitigen Ganzen. Dabei wird u.a. mit dem Irrtum aufgeräumt, Marx sei in Fragen ökonomischer Organisation ein Zentralist, wie es ihm viele Kritiker im Nachgang zu den Formen von Vergesellschaftung und staatsmonopolistischen Unternehmen im real existierenden Sozialismus vorwerfen. Dies hat allerdings nichts mit seiner alternativen Wirtschaftskonzeption zum Kapitalismus zu tun.
Vielmehr hatte Marx im Grunde eine sehr positive Einstellung zu dezentralen, gemeinschaftsorientierten Formen des Wirtschaftens. So schreibt er im Manifest der kommunistischen Partei: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (MEW 4: 482)
Sympathisant der Genossenschaftsidee
Marx kann insofern als Sympathisant der Genossenschaftsidee gelesen werden, obwohl die empirische Basis für eine zeitgenössische Bewertung der aufkommenden Genossenschaften noch weitgehend fehlte. Burghard Flieger arbeitet in seinem lesenswerten Beitrag heraus, dass der gesellschaftsverändernde Charakter von Genossenschaften von Marx auf vier Ebenen skizziert wird:
1. Auf der Ebene der einzelnen Person, des Arbeiters, der sich freiwillig mit anderen zusammentut, um eine Genossenschaft zu gründen.
2. Die Genossenschaft selbst ist nicht nur als wirtschaftliches Unternehmen zu sehen, sondern beinhaltet soziales Engagement für eine sozialere Welt.
3. Der experimentierende Charakter von Genossenschaften mit neuen Eigentums-, Leitungs-, Produktions- und Vertriebsstrukturen.
4. Um dem Anpassungsdruck des Kapitalismus widerstehen zu können, müssen sich Genossenschaften nach Marx mit anderen Genossenschaften kooperativ verbinden. Erst diese Verbindungen ermöglichen emanzipatorische, transformative Kooperativen.
Insgesamt handelt es sich um eine anregende Lektüre nicht nur für kritische Ökonomen, die zeigt, dass Marx auch heute noch für die wissenschaftliche Diskussion in praktischer Absicht nutzbar gemacht werden kann."
"Der 200. Geburtstag von Karl Marx hat nicht wenige Zeitgenossen zur Feder greifen lassen. Darunter finden sich (unter anderen mittlerweile politisch komplett gewendete) ehemalige Verehrer, in deren Betrachtungen das Werk des aus Trier stammenden Rauschebarts nicht selten als Projektionsfläche für Reflexionen ihres eigenen politischen (Irr-)Weges durch die Jahrzehnte dient.
Der vorliegende Aufsatzband ist nicht völlig frei von solchen Momenten, aber insgesamt handelt es sich um eine recht interessante Zusammenstellung, die von den Herausgebern in drei nicht völlig klar abgrenzbare Themenblöcke unterteilt wurden. Besonders der erste Teil ist fast durchgängig lesenswert und lehrreich, auch wenn man Helge Peukerts Auffassung, die Lehre von Marx sei ein unverzichtbarer Gegenstand moderner "pluraler" ökonomischer Lehre, nicht teilen muss. Entschädigt wird der Leser mit Beiträgen von Hans Frambach über wirtschaftliche Entwicklung, Heinz Kurz über die "unsichtbare Hand" und Bertram Schefold über das berühmt-berüchtigte Transformationsproblem."
Warenreproduktion mittels Waren?
Das "Kapital" – Zukunftswissenschaft zu praktischen Zwecken
Das Marxsche Kooperativensystem
Zur Erklärung von wirtschaftlicher Entwicklung bei Karl Marx
Vordenken braucht Nachdenken
Karl Marx und die 'Unsichtbare Hand'
Wirtschaft und Geschichte ohne Telos
Inwertsetzung räumlicher Strukturen
Warum ist die Marxsche Theorie ein unentbehrlicher pluraler Bestandteil für die Volkswirtschaftslehre?
Die nachökonomische Gesellschaft als reale Utopie
Die 'wirkliche Ökonomie' bei Marx
Die Bedeutung des Transformationsproblems und seine Lösung
Von der Deep Treadmill zur alternativen Stadtökonomie
Das ökonomische Problem in einer komplexen Gesellschaft
Marx!