"Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft" · Band 23
434 Seiten
24,80 EUR
(inklusive MwSt. und Versand)
ISBN 978-3-89518-821-3
(02. Mai 2011)
Ausgelöst durch die globale Rezession 2008/09 ist ein neues Interesse an der Lehre von John Maynard Keynes entstanden. Unter Bezugnahme auf Keynes wurde weltweit mit kräftigen Zinssenkungen und einer antizyklischen Fiskalpolitik auf die größte Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre reagiert. So stellt sich nun erneut die Frage, was die Lehren von Keynes zur Erklärung und Bekämpfung von Wirtschaftskrisen beitragen können? Welche Erweiterungen und Anpassungen der keynesianischen Theorie sind im Lichte der Kritik am Keynesianismus und angesichts der jüngsten Entwicklungen notwendig? Inwieweit liegt der Krise ein Marktversagen, ein Politikversagen, ein Versagen der herrschenden Wirtschaftstheorie zugrunde? Diese und andere Fragen werden in den Beiträgen des vorliegenden Bandes diskutiert, der aus einer gemeinsamen Tagung des Arbeitskreises Politische Ökonomie und der Keynes-Gesellschaft in Karlsruhe hervorgegangen ist.
"Vor diesem Hintergrund ist die grundsätzliche Frage des Sammelbandes, welche Konsequenzen die Große Rezession der Jahre 2008 und 2009 und das Wiederaufkommen keynesianischen Denkens für die Wirtschaftswissenschaften haben, aktuell und von großer Relevanz. Denn letztlich geht es im Grundsatz darum, ob die Keynessche Analyse ein Sonderfall ist, die ihre Anwendung nur in besonderen ökonomischen Krisenzeiten findet, oder ob es sich um eine allgemeingültige makroökonomische Wirtschaftstheorie handelt, die auf den Keynesschen Ideen der fundamentalen Unsicherheit, der inhärenten Neigung des ökonomischen Systems zur Instabilität und dauerhafter Unterbeschäftigung beruht und eine wirkliche Alternative zum derzeit vorherrschenden Paradigma darstellt.
Die Antwort, die die Herausgeber des Bandes geben ist eindeutig. Für sie ist die keynesianische Wirtschaftstheorie mehr als nur eine "theoretische Fundierung anti-zyklischer Fiskalpolitik" (S. 9). Die Herausgeber halten Keynes? Theorie für die bessere Grundlage weiterer theoretischer Entwicklungen in den Wirtschaftswissenschaften als das neoklassische Fundament des Mainstreams. Aus ihrer Sicht "stellen die keynesianische und die post-keynesianische Theorie grundsätzlich brauchbare Anknüpfungspunkte dar, um auch das heutige Finanzmarkt dominierte Wirtschaftssystem analysieren und darauf aufbauende Politikempfehlungen abgeben zu können." (S. 11)
Entsprechend kritisch stehen auch die meisten Beiträge des Sammelbandes dem aktuellen makroökonomischen Mainstream gegenüber, wie exemplarisch die beiden interessanten Beiträge von Peter Spahn sowie von Ronald Schettkat und Rongrong Sun belegen. Spahns Untersuchung zur neukeynesianischen Makroökonomie befasst sich insbesondere mit ihrem mikroökonomischen Fundament und zeigt, dass durch die Verwendung eines intertemporal nutzenmaximierenden, repräsentativen Haushalts "zentrale Koordinationsprobleme konstruktionsbedingt ausgeblendet bleiben" (S. 55), die traditionell im Fokus keynesianischer Makroökonomie stehen. Die eingeforderte Mikrofundierung hat ? so Spahn weiter ? teilweise fundamentalistischen Charakter und ist in ihrer Ausgestaltung willkürlich und "konstruiert" (S. 67). Aber er verwirft den Modellrahmen der neukeynesianischen Makroökonomie nicht vollständig. Vielmehr sieht er in ihm durchaus einen "nützlichen Ausgangspunkt" (S. 55), hält allerdings eine informationstheoretische Erweiterung und Weiterentwicklung für absolut erforderlich. Notwendig ist zudem die Abkehr vom repräsentativen Agenten hin zu einer stärkeren Differenzierung der Akteurgruppen, um die Figuren des "Schumpeterschen Produzenten" und des "Keynesschen Investors" (S. 80). Der Beitrag von Schettkat und Sun veranschaulicht, dass die problematischen theoretischen Modellannahmen letztlich auch konkrete problematische Politikempfehlungen mit sich bringen. Er befasst sich mit einer der Kernaussagen der neuen neoklassischen Synthese, wonach die Geldpolitik zwar in der kurzen, nicht aber in der langen Frist realwirtschaftliche Effekte haben kann. Erreicht wird dieser Unterschied zwischen der kurzen und der langen Frist in der neuen neoklassischen Synthese durch die Einführung von Rigiditäten, die aber nur temporär eine Abweichung vom walrasianischen allgemeinen Gleichgewicht bewirken, und beispielsweise der bewussten Ausblendung ökonomischer Wirkungszusammenhänge, die eine Pfadabhängigkeit des ökonomischen Systems (Hysterese) zur Folge haben. Die beiden Autoren setzen sich detailliert mit diesem Postulat des neuen Mainstreams in der Makroökonomie auseinander und zeigen anschaulich, dass sowohl dessen theoretische als auch empirische Begründung mehr als fragwürdig ist, sodass insgesamt die langfristige Neutralität der Geldpolitik eher als ein "theoretisches Vorurteil" (S. 350) anzusehen ist. So kommen sie zu der Schlussfolgerung, dass bei einer unvoreingenommenen Betrachtung "zahlreiche Analysen eher für als gegen langfristige realwirtschaftliche
Der gelungene Sammelband bietet eine Vielzahl anregender Einsichten in den Zustand und die Relevanz zeitgenössischen keynesianischen Denkens. Er lohnt sich für alle Leser mit Interesse an makroökonomischen Fragestellungen, an Alternativen zum dominierenden makroökonomischen Mainstream und an einem Überblick darüber, was aktuell unter keynesianischer Wirtschaftstheorie und -politik zu verstehen ist."
Die meisten der in diesem Band zusammengefassten Beiträge sind überarbeitete Fassungen von Vorträgen, die auf einer gemeinsamen Tagung des Arbeitskreises Politische Ökonomie und der Keynes-Gesellschaft im Herbst 2009 in Karlsruhe gehalten wurden. Die Tagung stand unter dem Eindruck der damals besonders akuten, globalen Wirtschaftskrise. Immerhin wurde gerade in aller Welt über die Instabilität der Finanzmärkte und über die Zweckmäßigkeit und Wirkung von staatlichen Konjunkturprogrammen debattiert.
Nachdem keynesianische Ideen in den Jahrzehnten vor der Krise zu weiten Teilen aus Politik und Wissenschaft verdrängt worden waren, war der Name Keynes auf einmal wieder in aller Munde. So sprechen die Herausgeber in ihrer Einleitung ohne Zweifel zu Recht von einer »Renaissance von John Maynard Keynes« (7). Die einzelnen Beiträge des Sammelbands unterscheiden sich teilweise erheblich in ihrer thematischen Schwerpunktsetzung und in ihrer Perspektive auf das Keynessche Werk. Angesichts der Vielfalt der behandelten Aspekte kann der Band sicher nicht den Anspruch haben, ein in sich geschlossenes und konsistentes Konzept für eine moderne keynesianische Wirtschaftstheorie und -politik zu entwickeln. Einige große Fragen können nur recht oberflächlich behandelt werden. So reichen die Inhalte von Kritik an der ?Mainstream?-Ökonomik und dessen Umgang mit den Ideen von Keynes (Peter Spahn, Johannes Schmidt, Ronald Schettkat und Rongrong Sun, Heinz Kurz) über die Neubewertung von Keynes? Ansichten zum Zusammenhang von Globalisierung und Strukturwandel (Hagen Krämer) und zum möglichen Ende der Wachstumsgesellschaft bei gesättigten materiellen Bedürfnissen (Harald Hagemann) bis hin zu wirtschaftspolitischen Analysen zum skandinavischen Modell (Theo Schewe) oder zur deutschen Schuldenbremse (Klaus Dieter John) und zu den Anknüpfungspunkten zwischen Keynes und Karl Polanyi (Peter Kalmbach) sowie zwischen Keynes und ökologisch orientierten Ökonom/inn/en (Tobias Kronenberg).
Die Herausgeber fassen in ihrer Einleitung einige der Kritikpunkte zusammen, die im Lichte der Krise gegen die lange herrschende 'Mainstream'-Ökonomik erhoben werden müssen (12): Der 'Mainstream' hat die Krise nicht vorausgesehen; er hat im Glauben an die Effizienzmarkthypothese das Entstehen von spekulativen Blasen auf den Vermögensmärkten weitgehend ausgeschlossen und ist von einem vollständig rationalen Verhalten der Individuen ausgegangen; und schließlich hat er keynesianische Ideen weitgehend verdrängt, und zwar selbst innerhalb des zum 'Mainstream' gewandelten Paradigmas des 'Neukeynesianismus', jener Denkschule, die aus der Annahme einiger mikroökonomischer Rigiditäten eine gewisse Relevanz von staatlicher Konjunktursteuerung für die kurze Frist herleitet. Demgegenüber betonen die Herausgeber, dass es viel zu kurz gegriffen wäre, Keynes lediglich als einen »Krisenökonomen« abzutun (9), dessen Theorie nur im Falle kurzfristiger Nachfrageausfälle eine gewisse Relevanz habe. Fast alle Beiträge des Sammelbandes folgen ebenfalls dieser Überzeugung. So bestand Keynes? sehr umfassender Anspruch nach seinen eigenen Worten gerade darin, die »tiefen Meinungsverschiedenheiten unter meinen Fachkollegen zur Entscheidung zu bringen, die zur Zeit den praktischen Einfluss der ökonomischen Theorie fast zerstört haben.« (28) Hierauf weist Jürgen Kromphardt in seiner Würdigung von Keynes? »Allgemeiner Theorie« aus dem Jahre 1936 im Lichte der Weltwirtschaftskrise 1929 ? 1932 hin.
Die übrigen Beiträge des Sammelbands zeigen einerseits auf, wie wertvoll die Keynessche Analyse auch heute noch für die Bewertung der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertretern verschiedener Theorieansätze und wirtschaftspolitischer Grundüberzeugungen ist. Andererseits machen sie auch klar, dass sich weite Teilbereiche der Volkswirtschaftslehre momentan auch deshalb in einem »trostlosen Zustand« befinden, weil die Keynesschen Ideen im wissenschaftlichen 'Mainstream' weitgehend vergessen worden sind (vgl. hierzu besonders den abschließenden Beitrag von Heinz Kurz).
Der aus konzeptioneller Sicht vielleicht interessanteste Beitrag ist der von Johannes Schmidt zur Bedeutung der Saldenmechanik für die makroökonomische Theoriebildung. Auf Grundlage der Terminologie von Wolfgang Stützel beschreibt Schmidt präzise, worin sich Keynes? Vision von einer ?monetären Theorie der Produktion? von der neoklassischen allgemeinen Gleichgewichtstheorie unterscheidet. Diese kann letztlich nur Gültigkeit haben, wenn von der Existenz des Geldes abgesehen wird. Diesen alten Vorwurf wendet Schmidt auf ein aktuelles und bekanntes 'neukeynesianisches' Lehrbuch von Jordi Gali an und schlussfolgert, dass in dieser Modelklasse die Existenz von Geld ebenso wie das Entstehen von Finanzierungssalden überhaupt erst durch einige sehr merkwürdige Kunstgriffe möglich ist. Die Beiträge von Peter Spahn und von Ronald Schettkat und Rongrong Sun befassen sich ebenfalls mit der Kritik an neukeynesianischen Modellen. Im krassen Gegensatz zu Keynes? eigener Analyse einer monetären Produktionsökonomie, in der unterschiedliche Akteursgruppen unter Bedingungen von Informationsdefiziten und Unsicherheit Entscheidungen treffen müssen, gibt es in den Grundmodellen der neukeynesianischen Makroökonomik erstaunlicherweise, so Spahn, »keine wesentlichen Interaktionen und Interessenkonflikte [?], keine Informations-, Verteilungs- oder Liquiditätsprobleme« (60). Während diese theoretischen Prämissen offensichtlich fragwürdig sind, führen sie auf praktischer Ebene zu weitreichenden wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen. Wie Schettkat und Sun zeigen, war das Postulat der langfristigen Neutralität der Geldpolitik, wonach die Makropolitik letztlich keinen Einfluss auf das längerfristige Wirtschaftswachstum haben kann, lange Zeit wichtiger Bestandteil der ?Mainstream?-Ökonomik. Da die empirische Evidenz hierfür jedoch wenig überzeugend ist, hat man nach Ansicht von Schettkat und Sun viel zu lange »im Zweifel für das theoretische Vorurteil« (350) entschieden. Neben der Kritik am ?Mainstream? der Vorkrisenzeit enthält der Band auch eine Reihe von praktischen Anwendungen keynesianischer Ideen auf Fragen der Wirtschaftspolitik. Eine grundlegende Kritik am »finanzdominierten Kapitalismus« der letzten Jahrzehnte entwickeln Eckhard Hein und Achim Truger. Diesem Wirtschaftsmodell, welches unterregulierte Finanzmärkte, steigende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und globale Ungleichgewichte im Außenhandel hervorbrachte und in die größte Rezession seit 1929 mündete, setzen sie ein ebenso überzeugendes wie ambitioniertes »Plädoyer für einen globalen keynesianischen New Deal« entgegen.
Insgesamt vermittelt der Band einen durchaus interessanten Einblick in die Tiefe, Vielschichtigkeit und Aktualität der Keynesschen Wirtschafts- und Gesellschaftsanalyse. Das Buch ist leicht lesbar und setzt relativ wenig dogmenhistorisches und formales Vorwissen voraus. Es dürfte gerade für Leser, die sich möglichst schnell von der in vielen makroökonomischen Lehrbüchern gezeichneten Karikatur 'des Keynesianismus' befreien wollen, sehr lohnend sein.
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